Die St. Basil Kathedrale und der Turm des Kreml in Moskau
Reuters/Evgenia Novozhenina
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Interview

Russland und die gehorsame Kirche

Die Beziehung zwischen Russland und der russisch-orthodoxen Kirche ist eine besondere. Die Kirche liegt mit Wladimir Putin auf einer Linie. Seit der Verfassungsänderung müsse sie besonders gehorsam sein, wie die Russland-Kennerin Clemena Antonova im Gespräch mit ORF Religion sagte.

ORF Religion: Frau Antonova, Sie haben Ihre Wurzeln in Bulgarien, studiert haben Sie in Großbritannien, Sie kennen das Denken in den östlichen und den westlichen Kirchen. Wie sehen die Unterschiede aus, speziell was die Beziehungen zum Staat angeht?

Antonova: Wenn man sich das alles aus der Perspektive einer Person ansieht, die in der katholischen Tradition sozialisiert ist, dann funktioniert die Dynamik in der orthodoxen Welt ganz anders. Die katholische Kirche hat ja den Anspruch, in aller Welt tätig zu sein. Die orthodoxen Kirchen, in Serbien etwa, in Bulgarien und auch in Russland, sind sehr stark von den national orientierten Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts geprägt.

Die Kunsthistorikerin Clemena Antonova
Privat
Clemena Antonova

Diese Kirchen sind also immer in sehr enger Verbindung zum nationalstaatlichen Denken gestanden. Trennung von Staat und Kirche war da also nie ein Thema. Russland ist da noch einmal ein spezieller Fall. Zar Peter der Große hat damals seine Macht sehr weit über die Kirche ausgedehnt. Ich würde sagen: er hat die russisch-orthodoxe Kirche komplett unterworfen. Manche Historiker sagen deshalb: Seit damals ist die Kirche so etwas wie eine Abteilung des Staates.

ORF Religion: Die Kirchen der katholischen und protestantischen Traditionen sehen sich ja gern als Stachel im Fleisch der Politik. Etwa wenn es um soziale Fragen geht. So wie Sie das beschreiben würde sich die russisch-orthodoxe Kirche dem Staat gegenüber weniger kritisch verhalten?

Antonova: Es kommt durchaus vor, dass Papst Franziskus mit seinen ganz eigenen Positionen an die Öffentlichkeit geht. Er hat seine Anliegen und Forderungen – unabhängig davon, was die Politik für richtig hält. Der Vatikan hat seine eigenen Positionen. In Russland wartet niemand ernsthaft darauf, dass der Patriarch eine Meinung äußert, die sich von der Meinung Putins unterscheidet. Das zu verstehen, ist ziemlich wichtig.

Sendungshinweis

Clemena Antonova im Ö1-Religionsmagazin „Praxis – Religion und Gesellschaft“, Mittwoch, 11.11.2020, 16.05 Uhr, Ö1.

ORF Religion: Welchen Vorteil hat nun die orthodoxe Kirche davon, dass sie sich so umgänglich verhält?

Antonova: Der Vorteil, der für die russisch-orthodoxe Kirche dabei entsteht, liegt auf der Hand: sie hat ein Alleinstellungsmerkmal als Stimme des Glaubens. Andere religiöse Traditionen – angefangen von anderen christlichen Konfessionen bis hin zu Islam, Buddhismus und Schamanismus sind in Russland präsent, werden aber nicht als ernst zu nehmender Ansprechpartner des Staates wahrgenommen.

Ich wüsste gar nicht, wofür Putin die Kirche und ihre Unterstützung jetzt so dringend brauchen sollte. Die Verfassungsänderung ist ja vollzogen, er kann bis 2036 Präsident bleiben und hat seine Funktion damit wirklich einzementiert. Ich glaube nicht, dass er die Kirche jetzt dringend braucht. Was für die wiederum bedeutet, sie muss sich besonders gehorsam verhalten.

Zur Person

Die Kunsthistorikerin Clamena Antonova leitet am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen das Programm „Eurasien im globalen Dialog“. In ihrer Tätigkeit ordnet sie ihr Fachgebiet in breitere Zusammenhänge ein, beschäftigt sich mit der religiösen Philosophie Russlands und den Zusammenhängen zwischen Staat und Kirche. Sie erklärte für das Ö1-Religionsmagazin „Praxis“ aktuelle Fragen aus geistesgeschichtlichen Zusammenhängen heraus.

ORF Religion: Und doch ist auch Putin ein Kind der orthodox geprägten Kultur und Denkweisen. Vor diesem Hintergrund – wie finden Sie es, wenn er sich auf seine Weise in Szene setzt: mit männlichen Attributen, nacktem Oberkörper, beim Jagen oder Fischen? Hat das nicht etwas geradezu Ikonographisches?

Antonova: Es gibt da diese ganz lustige Geschichte, aus der Zeit unmittelbar nach der Revolution. Die Bolschewiken in Moskau haben einen Brief bekommen, aus einem ganz entlegenen Dorf. Die Bauern haben geschrieben: soviel wir verstanden haben, haben wir jetzt einen neuen Herrscher – und er heißt Revolution. Können Sie und bitte eine Ikone mit seinem Bild schicken, damit wir ihn so verehren können.

Ikonen sind viel mehr als ein Portrait. Da geht es um eine Form von Gegenwärtig-Sein. Wenn man jetzt ein Portrait von Putin veröffentlicht oder irgendwo aufhängt, dann ist das viel mehr als eine Abbildung. Es bedeutet: Putin ist in gewisser Weise gegenwärtig – und er beobachtet dich.

ORF Religion: Das klingt nach einer Machtdemonstration.

Antonova: Macht ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff. Nehmen wir zum Beispiel den Fall des Regimegegners Nawalny (Alexei Anatoljewitsch Nawalny, Anm. d. Redaktion). Auch wenn er nicht vergiftet worden wäre, wenn er gegen Putin kandidiert hätte – in einer fairen, transparenten Wahl: Nawalny hätte nicht gewonnen. Auch in einer ganz fairen Wahl wäre Putin stärker gewesen.

Welchen Sinn hat es also, Nawalny zu bekämpfen? Es geht nur darum zu zeigen: wir sind an der Macht, es gibt keine Alternative. Sie wollen zeigen wie mächtig sie sind – auch wenn sie vielleicht gar nicht so viel Macht haben, wie sie nach außen glauben machen wollen.

ORF Religion: Machtdemonstrationen stehen in diesem Teil der Welt ja hoch im Kurs, wenn man sich das Vorgehen der politisch Verantwortlichen so ansieht.

Antonova: Ich leite am Institut für die Wissenschaften vom Menschen das Eurasienprogramm. Da geht es um einen Bereich, der geprägt ist von zwei untergegangenen Reichen: dem osmanischen und dem Zaren- bzw- Sowjetreich. Viele Staaten, die jetzt Krisenherde sind, haben früher zu einem dieser beiden Reiche gehört. Die Einflüsse von Russland und der Türkei sind immer noch sehr stark.

Es geht um die Interessen dieser beiden in der Region dominierenden Staaten. Es geht da nicht um einen religiösen Konflikt zwischen Christentum und Islam. Nehmen Sie jetzt den Konflikt um Bergkarabach. Da geht es darum, dass Putin das christliche Armenien unterstützt und Erdogan das muslimische Aserbeidschan. Für mich ist das Spannende, welche Rolle die Interessen von Russland und der Türkei spielen. Es geht für mich hier um politische Bündnisse – und nicht um die Unfähigkeit zweier großer Weltreligionen, friedlich zusammen zu leben.