Flüchtlingslage Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos
Reuters/Elias Marcou
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Geflüchtete

Bischof Glettler auf Lesbos: „Nicht wegschauen“

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler hat Anfang der Woche die griechische Insel Lesbos besucht und sich vor Ort ein Bild vom Elend der rund 9.000 geflüchteten Menschen vor Ort gemacht.

Angesichts der Situation vor Ort appellierte der Bischof im Kathpress-Interview am Donnerstag einmal mehr an die österreichische Bundesregierung, Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen. Sein Besuch vor Ort sei kein politischer Aktivismus gewesen, „sondern ein bewusstes Hinschauen auf einen der größten humanitären Katastrophenschauplätze Europas“.

Er wolle, wie auch viele andere engagierte Helfer, „beim Wegschauen und Verdrängen nicht mehr dabei sein“. Er wünsche sich für Österreich „eine jeweils aktualisierte, sachliche Kommunikation über die Situation der Aufnahmelager an den europäischen Außengrenzen“, so Glettler: „Die Wahrheit ist der Bevölkerung zumutbar.“

Gegen „politisches Schönreden“

Weder ein „politisches Schönreden“ noch eine „aufgeschaukelte Empörungsrhetorik“ helfe weiter. Österreich sollte zusätzlich zur ohnehin wahrgenommenen Asylverpflichtung im konkreten Krisenfall Lesbos ein deutliches Zeichen setzt, forderte der Bischof: „Wir sollten uns rasch an der Aufnahme von Menschen beteiligen, die bereits einen positiven Asylbescheid haben.“

Die Länder an den EU-Außengrenzen bräuchten eindeutig mehr Solidarität von den anderen Mitgliedsländern. Und selbst nur eine Hundertschaft von Leuten aufzunehmen, wäre schon eine Hilfe und Erleichterung vor Ort. Nachsatz: „Weihnachten hätte dafür auch die nötige Symbolkraft.“

Bischöfe „in Geiselhaft“

Zur Frage, welche Botschaft er für die heimischen Bischöfe aus Lesbos mitbringe, sagte Glettler: „Meinen Bischofskollegen schlage ich vor, dass wir uns europaweit für eine einheitliche Positionierung der katholischen Kirche aussprechen. Es kann nicht sein, dass sich Bischöfe gewisser Länder in die Geiselhaft einer nationalistischen Haltung ihrer Regierungen nehmen lassen.“

Für die Zivilgesellschaft, darunter etwa auch Pfarrgemeinden, sei es sinnvoll, mit Hilfsorganisationen zu kooperieren, die vor Ort auf Lesbos tätig sind. So könnte man konkrete Projekte verwirklichen. Gletter: „Ich denke zum Beispiel an den Bau von Schulcontainern in den Lagern. Die Kinder wollen lernen und damit ihre Zukunft vorbereiten.“

„Etwas wie Schule“ in Camps

Die Kinder machten rund ein Drittel aller Flüchtlinge auf Lesbos aus, darunter seien auch viele Kleinkinder und Neugeborene. Alleinstehende Mütter mit ihren Kindern würden nicht in Kara Tepe II, sondern in einem eigenen Lager untergebracht, berichtete Bischof Glettler. Mittlerweile werde versucht, „so etwas wie Schule“ im Camp zu ermöglichen.

Eigene Schulcontainer und Plätze, wo sich Kinder aufhalten und spielen können, seien angedacht. Aber all diese Verbesserungen dauerten „unendlich lange“. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gebe es auf Lesbos nur mehr ungefähr 200. Die meisten von ihnen seien nach der Brandkatastrophe auf das Festland gebracht oder in andere EU-Länder überstellt worden.

„Mut zur Menschlichkeit“

Der Innsbrucker Bischof war mit einer Gruppe der Initiative „Courage: Mut zur Menschlichkeit“ und des neu gegründeten Vereins „Flüchtlingshilfe Doro Blancke“ auf Lesbos. Die Grazer Menschenrechts-Aktivistin Doro Blancke arbeitet seit sechs Wochen auf Lesbos. Sie hilft bei der Essensversorgung und achtet besonders auf die Bedürfnisse der Familien mit ihren Neugeborenen sowie auf andere vulnerable Gruppen.

An die 9.000 Menschen befinden sich immer noch in Zeltlagern auf Lesbos, davon 7.300 Personen im größten Lager Kara Tepe II., das nach dem Brand des Lagers Moria errichtet worden war. Aktuell würden viele Bemühungen laufen, die Infrastruktur des Lagers nachzubessern, so Gletter.

Wäsche auf Stacheldrähten

Der Bischof weiter: „Erst jetzt, drei Monate später, werden die ersten Duschen gebaut, 15 Stück! Warmwasser und Elektrizität werden jetzt erst eingeleitet. Die Leute müssen sich bisher in improvisierten Kabinen mit einem Kübel Kaltwasser duschen.“ Der Bischof hatte bei seinem Besuch in Kara Tepe einen Regentag erwischt. Die sich ihm darbietenden Bilder seien schockierend gewesen: „Rinnsale zwischen den Familienzelten, auf Stacheldrähten aufgehängte Wäsche…“

Kampf gegen die Kälte

In letzter Zeit seien einige Großzelte für alleinstehende Personen gebaut worden, die aktuell mit Holzverschlägen für den Winter vorbereitet werden. Die Familien lebten nach wie vor in Notfallzelten, „die meisten zumindest mit einer Holzunterlage, um die ärgste Kälte abzuwehren“. Dazu bräuchte es aber noch zusätzlich „eine Unmenge Heizstrahler, wie uns der Leiter des Lagers berichtet hat“.

Aktuell stehe der Winter als größte Bedrohung vor der Tür. „Es rächt sich, dass nicht rechtzeitig reagiert wurde – und dass große Lager nie eine Lösung des Problems sein können“, so der Befund Glettlers. Trotzdem würden Planungen für ein fixes Lager nach dem humanitären Standard der europäischen Flüchtlingskonvention laufen, das 10.000 Personen Platz bieten soll.

Dem hielt der Innsbrucker Bischof entgegen: „Menschen müssen in die europäische Gesellschaft aufgenommen werden, wenn sie eine Asylberechtigung haben.“ Auch in Zukunft könne Lesbos sowie die anderen vier griechischen Inseln, auf denen sich zurzeit ein ähnliches Elend zuträgt, nur Aufnahmestation für Registrierung, Erstversorgung und Asylverfahren sein. Alles andere würde die Bevölkerung vor Ort weiterhin überfordern.

„Es wird weiteres Elend produziert“

Derzeit sei es so, dass alle, die einen positiven Asylbescheid haben, Lesbos in Richtung griechisches Festland abtransportiert werden. Doch damit werde das Problem nur verschoben. „Das griechische Sozialsystem kann diese Menschen nicht auffangen. Es wird weiteres Elend produziert“, so Glettler. Die Menschen vegetierten dann eben auf dem Festland dahin. „Europa muss hier eingreifen – mit einer längst fälligen fairen Verteilung der Angekommenen.“

Niemand verlasse aus Jux und Tollerei seine Heimat und nehme größte Gefahren in Kauf. Deshalb müssten die Investitionen in entwicklungspolitische Agenden in den Herkunftsländern der Flüchtenden zudem zu einer Priorität europäischer Politik werden. Das könne man entweder ganz eigennützig argumentieren, um die Folgekosten einer sich verstärkenden Fluchtbewegung einzudämmen, oder sich vom Begriff einer „globalen Geschwisterlichkeit“ inspirieren lassen, wie Papst Franziskus ihn eingebracht hat, so Glettler.

„Niemand ist mit dem Flugzeug gekommen“

Viele Menschen auf Lesbos hätten lange und entsetzliche Fluchtwege hinter sich, berichtete Glettler: „Eine große Anzahl sind Afghanen, die im Iran gelebt haben oder ihr Land aufgrund des permanenten Kriegszustandes verlassen haben. Eine nicht unbeträchtliche Zahl sind afrikanische Flüchtlinge, hauptsächlich aus Somalia und Eritrea, die aufgrund der blockierten direkten Mittelmeerroute den Umweg über die Türkei wählen.“

Er wolle künftig weniger von „den Flüchtlingen“ sprechen, sondern von „Menschen, die dramatische Fluchtwege hinter sich haben“, sagte der Bischof: „Niemand ist mit einem Flugzeug auf die Insel gekommen.“

Mit Hinschauen Zeugnis geben

Die Menschen seien psychisch belastet und traumatisiert. Sie müssten wieder erleben, dass sie nach all den Enttäuschungen als Menschen geachtet werden, nicht als zu versorgende Objekte, die allen zur Last fallen. Das sei nicht mehr als ein „Mindestmaß an Menschlichkeit“, forderte Glettler.

Und trotzdem: „Hoffnung lässt sich zum Glück nicht ausrotten. Die Leute hoffen auf positive Asylbescheinigungen und auf einen Weg in eine Zukunft, wo sie wieder in Würde Mensch sein können.“ Reale Zeichen der Hoffnung sind für Bischof Glettler zudem die vielen engagierten Menschen, „die mit ihrem Hinschauen auf die Not und ihrem Einsatz von einem humanitären Europa Zeugnis geben“.