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Die Kabbala: Mystische Tradition des Judentums

Von vielen als schillerndes Phänomen, als mysteriöse Geheimlehre wahrgenommen, stellt die Kabbala, die jüdische Mystik, eine Säule der jüdischen Kultur und Religion dar. Doch was Kabbala ist, wie alt sie ist, wer sie studieren darf oder soll, darüber scheiden sich die Geister.

Die kabbalistischen Lehren sind durchaus komplex und gerade deshalb mit Vorsicht zu genießen, meint die Judaistin und jüdische Religionslehrerin Ruth Winkler zu religion.ORF.at: „Die Gelehrten, die diese Lehren überliefern, haben sie irgendwann einmal empfangen. Ursprünglich ist die Kabbala Teil der Thora, die am Berg Sinai gegeben wurde, aber nicht alle Menschen erkannten sie. Nur jene, die ein hohes spirituelles Niveau hatten, konnten diese Überlieferung erkennen.“ Kabbala ist ein Sammelbegriff für verschiedene Traditionen, Bücher, Überlieferungen.

Seit Jahrzehnten setzt sie sich mit den Lehren der Kabbala auseinander, studiert sie, versucht echte Einblicke zu erlangen. Kann sie also Auskunft geben, worum es in der Kabbala im Grunde geht? „Ein wesentliches Element ist die Beschäftigung damit, wie Gott die Welt führt und wie er die Welt erschaffen hat“, so Winkler. Es gehe um die Fragen, wie Gott die Welt geformt hat und welche Position die Menschen in der Welt haben. Außerdem beschäftige sich Kabbala auch damit, wie sich die Seele zum Körper und wie zum Göttlichen verhält.

Göttliche Seele

Der Judaist Klaus Davidowicz ist einer der renommiertesten Kabbala-Forscher im deutschsprachigen Raum. Für ihn ist sie eine Erweiterung der jüdischen Tradition. Er erklärt die Kernlehre der Kabbala so: „Normale Gebete werden mit einer Ausrichtung auf Gott verbunden, die zu einer Vereinigung mit Gott führen soll. Das heißt, man versucht, seine Seele dabei auszurichten, eine Meditation zu machen, um aufzusteigen in die göttlichen Welten.“ Wie so oft in der Mystik, gehe es um die Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen, sagt er.

EIn kabbalistisches Geburtsamulett, das Schaden vom Neugeborenen abhalten soll
APA/AFP/Gali Tibbon
Ein Geburtsamulett aus Italien von 1850. Es soll Schaden vom Neugeborenen abhalten.

Alle menschlichen Seelen haben gemäß der Kabbala ihren Ursprung in Gott, im Göttlichen, und jede Seele selbst ist demnach ein göttlicher Funke. Winkler erklärt dazu: „Im Schöpfungsbericht heißt es, dass Gott, als er den Menschen schuf, ihm die Seele einhauchte, er blies sie hinein.“ Und das wird so interpretiert, „dass ein bisschen etwas von Gott, ein Stück göttlicher Atem, in die menschliche Seele hineingekommen ist.“

Entstehung im Mittelalter

Vertreter dieser mystischen Strömung – über Jahrhunderte waren nur Männer zum Studium der Kabbala zugelassen – verorten ihre Wurzeln in der Antike oder gar beim biblischen Adam, dem ersten Menschen, dem sie schon offenbart worden sein soll. Die Wissenschaft sieht das anders – und so gehen auch bei der Datierung der Schriften die Meinungen auseinander.

Für Kabbalisten sind sie aus der rabbinischen Epoche oder noch älter. Laut Gershom Scholem, dem Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der Kabbala, wird diese als solche erst ab circa 1.200 fassbar. Ihre Anfänge liegen demnach also im Mittelalter in Südfrankreich, in der Provence. Dort gab es große rabbinische Persönlichkeiten, die sich in den Talmud-Akademien mit der jüdischen Tradition beschäftigten.

Orthodoxe jüdische Männer in einer Höhle in Jerusalem beim nächtlichen Studium kabbalistischer Texte
APA/AFP/Menahem Kahana
In einer Höhle in Jerusalem treffen sich orthodoxe jüdische Männer nachts zum Studium kabbalistischer Texte

Sie alle lebten an einem Schnittpunkt der Zeit: „Wir haben auf der einen Seite Ketzerströmungen wie die Katharer im Christentum“, so Davidowicz. Auf der anderen Seite gab es die Übersetzungen ins Hebräische der arabisch geschriebenen jüdisch-philosophischen Texte aus Spanien und typisch mittelalterliche Bewegungen wie die sogenannten Abgesonderten, die eine Art jüdisches Mönchstum lebten und die älteren Texte der jüdischen Mystik wie jene über Himmelsreisen bearbeiteten.

Weiterentwicklungen

Die zentralen kabbalistischen Texte wie der „Zohar“ wurden in Deutschland, Frankreich und Spanien geschrieben bzw. dort endgültig redigiert. Mit der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 verlagerte sich das Zentrum der Kabbala auf das Gebiet des heutigen Israel, in Safed wurde eine neue mystische Schule gegründet, die sogenannte „lurianische Kabbala“ nach Isaak Luria.

Im 18. Jahrhundert in Osteuropa entwickelte sich daraus eine weitere, bedeutende Strömung, der Chassidismus. Die Chassidim, übersetzt die Frommen, führen sich auf Israel ben Elieser zurück, einen Rabbi, um dessen Leben sich viele Legenden ranken. Er soll Wunder getan und Dämonen ausgetrieben haben. Davidowicz beschreibt den Chassidismus als eine Art popularisierte Volksmystik.

Tendenz zur Magie

Immer gab es aber auch Strömungen, die die Kabbala „sehr praktisch“ interpretierten und mitunter magische Praktiken anwandten. Talismane, Haussegensschilder als Glücksbringer, Amulette und anderes war lange en vogue und „das ist nicht ausgestorben“, so Winkler. Diese Praktiken gebe es immer noch, wenngleich sie heute wohl nicht mehr so modern wie im 18. Jahrhundert seien, so Winkler. „Für solche Dinge braucht es die Kabbala nicht unbedingt“, aber manche Leute hätten sich dafür immer wieder auch kabbalistischer Quellen bedient.

Ein altes Buch mit kabbalistischen Texten
APA/ANP/AFP/Koen van Weel
Die kabbalistischen Lehren seien Teil des jüdischen Erbes Europas, sagt der Judaist Klaus Davidowicz

Auch im christlichen Spektrum haben bestimmte Strömungen kabbalistische Elemente aufgegriffen. Und die moderne Esoterik bezieht sich ebenfalls immer wieder auf die vermeintlich „magischen“ Lehren und Symbole. Ganz abseits davon hinterlässt die mystische Tradition des Judentums seit Jahrhunderten auch in Kunst und Kultur ihre Spuren. Die kabbalistischen Lehren seien Teil des jüdischen Erbes Europas, sagt der Judaist.

Kabbala als Popkultur

Heute hat die Kabbala im Judentum nicht mehr den gleichen hohen Stellenwert wie im ausgehenden Mittelalter. Nur in einigen wenigen Lehrhäusern und in manchen Strömungen, wie eben im Chassidismus, wird sie weiterhin gepflegt. Populäre Phänomene wie das internationale „Kabbalah Center“ der Familie Berg werden von vielen Jüdinnen und Juden skeptisch betrachtet.

Dort werden die Lehren der Kabbala auch Menschen anderer religiöser Bekenntnisse zugänglich gemacht, Frauen wie Männern, Jungen wie Alten. Zahlenmystik und die Energie der hebräischen Schriftzeichen spielen dort eine große Rolle, von Kritikern wird dieser Ansatz „Hollywood-Kabbala“ genannt, in Anspielung auf viele Hollywood-Stars wie Demi Moore oder Madonna, die in den Zentren in den USA ein- und ausgehen.

„Mischung aus Meditation und Theosophie“

„Was die Kabbala so anziehend macht, ist die Mischung aus traditioneller Meditation und Theosophie“, sagt Davidowicz. Reizvoll seien für viele auch die handfesten, magischen Traditionen innerhalb der Kabbala – all das, was als Aberglaube oder Welt des Dämonischen abgetan werde. In der Kabbala sei all das harmonisch vereint.

Die ganzen Popularisierungen seit der Renaissance hätten laut Davidowicz ihren Reiz noch befeuert: Ob das die britischen Magier im 19. Jahrhundert waren, die sich aus der Kabbala bedient haben, wie der Orden Golden Dawn oder Satanisten wie Aleister Crowley, oder später Sänger wie David Bowie, der in seinem Song „Station to Station“ die göttlichen Welten besingt. „Diese große Welt mit vielen Angeboten kann einen schon faszinieren, bis heute“, so Davidowicz.