Imame grüßen einander in der Moschee in Pristina
APA/AFP/Armend Nimani
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Hierarchie

Wer im Islam das Sagen hat

Unterschiedliche Auffassungen, wann der Ramadan beginnt, Fatwas, die einander widersprechen, sowie Hass- und Friedensbotschaften via Social Media: Der Islam ist heterogener, als viele glauben. Die eine Autorität, die das Sagen hat, gibt es im Islam nicht. Das hat Vor- und Nachteile.

Ein Oberhaupt, das weltweit alle Musliminnen und Muslime eint und geistig anführt, wie in der römisch-katholischen Kirche der Papst, gibt es in der islamischen Religion nicht. Im Islam nehmen deshalb die Gelehrten eine wichtige Rolle ein. Es gibt Tausende, die zum Teil Jahrzehnte ihres Lebens dem Studium islamischer Schriften und der Interpretation der Religion gewidmet haben. Eine konkrete Ausbildung oder eine Wahl, wie sie zu ihrem „Amt“ kommen, gibt es allerdings nicht.

Die Gelehrten tragen die Verantwortung dafür, wie sie heilige Schriften, islamische Traditionen und Lehrinhalte interpretieren und an Gläubige weitergeben. Das gilt sowohl für Schiiten als auch Sunniten, die zwei größten Hauptströmungen im Islam. Etwa 90 Prozent aller Musliminnen und Muslime weltweit sind Sunnitinnen und Sunniten. Schiitische Mehrheiten gibt es aber zum Beispiel im Irak und im dem Iran.

Hierarchien im Islam

Der Islam ist basisdemokratisch organisiert. Die eine Autorität, die die Macht und das Sagen hat, gibt es bei Musliminnen und Muslimen nicht.

Bei den Schiiten gibt es im Vergleich zu den Sunniten mehr hierarchische Strukturen. Wichtige religiöse Autoritäten sind etwa Großimame oder Mardscha e-Taghlid, also Großayatollahs, wie Ali Al-Sistani im Irak. Millionen Menschen hören auf seine Interpretation des Islam und leben nach seinen Vorgaben. Durch die Anerkennung von Lehrern, theologisches Wissen und das Vertrauen der Gläubigen kristallisieren sich über Jahre hinweg neue Autoritäten heraus.

Vielfalt kein „Problem“

Noch weniger hierarchisch strukturiert sind die Sunniten. Es gibt auch keinen Klerus. Viele Gelehrte interpretieren und lehren den Islam mit einer persönlichen Prägung. Als Problem werde das grundsätzlich aber nicht gesehen. Im Gegenteil – Meinungsvielfalt sei ein Kernelement im Islam und werde von vielen positiv hervorgehoben, erklärte Zekirija Sejdini, Leiter des Instituts für islamisch-theologische Studien an der Uni Wien.

„Dass mehrere Lehrmeinungen nebeneinander existieren, darf nicht als Defizit gesehen werden. Es ist eine Bereicherung und Ergebnis dessen, dass die Menschen sehr involviert sind", sagte der islamische Theologe im Gespräch mit religion.ORF.at.

EIn Plakat mit Papst Franziksus und dem irakischen Großayatollah Al-Sistani
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Papst Franziskus, Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, traf bei seiner Irakreise den bedeutenden islamischen Gelehrten Ali Al-Sistani – ein vielbeachtetes Treffen

Individuelle Glaubensgrundsätze

Mit sogenannten Fatwas, einem islamisch-theologischen Gutachten, werden bestimmte Glaubensgrundsätze geprägt. Je nachdem von welchem Gelehrten die Fatwa herausgegeben wurde, können diese auch sehr unterschiedlich ausfallen, Fatwas können sich daher natürlich auch gegenseitig widersprechen.

Ein Beispiel für die Vielfalt in der islamischen Religion ist der Fastenmonat Ramadan. Die Frage, wann der Ramadan beginnt, beschäftigt Musliminnen und Muslime jedes Jahr aufs Neue. Denn darüber gibt es aufgrund unterschiedlicher Messungen und Auslegungen keine Einigkeit. „Die einen beginnen einen Tag später, die anderen zwei Tage später", sagte Sejdini. Jeder einzelne Gläubige kann selbst entscheiden, welcher Autorität er vertraut und welche er anerkennt und was demnach für einen selbst gilt – in diesem Fall, wann man mit dem Fasten beginnen soll.

Imam als direkter Glaubensvermittler

Direkten Einfluss auf die Gläubigen kann vor allem der Imam, der Vorbeter in der Moschee, haben. Denn Glaubensgrundsätze finden, neben der Erziehung, durch die Predigten Eingang in die Glaubenspraxis. Für Sejdini nimmt der Imam daher eine zentrale Rolle ein.

Von allen Gelehrten im Islam kann nur er die direkten Lebensumstände der Gläubigen kennen. „Der Imam in der Moschee, der das Wissen hat und im selben Kontext lebt, kann sicherlich mehr helfen als Leute, die fernab sitzen.“

Ein Muslim aus Palästina liest im Koran
APA/AFP/Mahmud Hams
Viele Muslime heißt auch viele Auslegungen des Koran

Digitalisierung als Probe

Doch vor allem in Zeiten der Digitalisierung ist Autorität im Islam zunehmend nicht mehr nur einer kleinen Gruppe Gelehrter vorbehalten. Heute ist durch Facebook, Twitter und Co. die Autorität fragmentiert und längst nicht mehr nur regional gebunden. Denn neben den großen Gelehrten, erreichen auch viele theologisch Ungeschulte oder Extremisten hunderttausende Menschen und verbreiten ihre Interpretation des Islam. So auch Mohamad al-Arefe.

Mit 20 Millionen Followerinnen und Followern, gehört sein Twitter-Account zu den 100 einflussreichsten weltweit. Über diverse soziale Netzwerke verbreitet er seine Botschaften an Millionen von Anhängern – und vertritt dabei größtenteils extremistische Positionen. 2012 rief er zur Beteiligung am Dschihad in Syrien auf und forderte die Todesstrafe für Homosexuelle.

Versuch einer Definition

Dass die Thematik der Fragmentierung von Autorität keine neue ist, zeigt die 2005 entstandene „Botschaft aus Amman“. Mehr als 500 islamische Gelehrte schlossen sich damals zusammen und legten eine Definition fest, wer Glaubensgrundsätze überhaupt formulieren darf. Der Einfluss des Papiers ist angesichts erfolgreicher Konten wie jener von al-Arefe überschaubar.

Im Netz finden sich aber ebenso islamische Influencer und Influencerinnen, die positive Spiritualität verbreiten wollen, etwa das Netzwerk Amaliah. Nach eigenen Angaben erreicht das Netzwerk, das Musliminnen eine stärkere Stimme geben will, mehr als 3,5 Millionen Menschen im Monat. Die Artikel beschäftigen sich mit muslimischer Identität und Livestyle.

Meinungsvielfalt als Werte-Quelle

Autorität, die nicht durch ein Oberhaupt verkörpert wird, hält der Experte Sejdini für einen klaren Vorteil: „Gerade wenn diese hohe Instanz keine fortschrittliche Meinung vertritt, dann wären ja alle Muslime verpflichtet, sich daran zu halten.“

Auch von vielen Muslimminen und Muslimen wird diese Meinungsvielfalt als etwas Positives gesehen, denn laut Sejdini „setze sich die Auslegung durch, die die besten theologischen Argumente habe.“