Bild von Emil Schweitzer (1894) von dem Pestpogrom an Jüdinnen und Juden in Straßburg der 14. Februar 1349
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Antisemitismus

Die Mär von der jüdischen Weltverschwörung

Die Pest, der Erste Weltkrieg, die Pandemie: Seit Jahrhunderten werden Juden für alles Übel verantwortlich gemacht – mit verheerenden Folgen. Als Motor für die Verbreitung der Verschwörungsmythen dienten die Medienrevolutionen zu der jeweiligen Zeit – Buchdruck, TV und Internet.

Adolf Hitler hielt am 30. Jänner 1939, am Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten, eine Rede, die in die Geschichte einging. Sie dauerte mehr als zweieinhalb Stunden und wurde immer wieder von tosendem Applaus der Abgeordneten im Reichstag unterbrochen. In der Ansprache gab Hitler Jüdinnen und Juden die Schuld am Ersten Weltkrieg und drohte ihnen erstmals öffentlich mit der Vernichtung.

„Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“, sagte Hitler. Jubel folgte. Die Nationalsozialisten ermordeten im Zweiten Weltkrieg schließlich sechs Millionen Jüdinnen und Juden.

Die Geschichte antisemitischer Verschwörungsmythen

In der Coronavirus-Pandemie haben antisemitische Verschwörungsmythen wieder Hochsaison. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Krisen und Konflikte waren schon immer ein Motor für Antisemitismus.

Neue Medien als Motor

Für die Propaganda gegen die jüdische Bevölkerung hatten sich die Nazis gezielt elektronischer Medien wie Radio, Fernsehen und Film bedient, um die Demokratie zu zerstören, sowie Jüdinnen und Juden als Verschwörer und Feinde darzustellen, gegen die Angriffe nur legitim sein konnten. So wurden etwa im Propagandafilm „Der ewige Jude“ aus dem Jahr 1940, Juden für Inflation und Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Zu sehen ist darin auch besagte Szene aus der Rede Hitlers, in der er Jüdinnen und Juden mit der Vernichtung droht. Mit dem Film sollte die deutsche Bevölkerung auf den Völkermord vorbereitet werden.

Pogrome an jüdischen Gemeinden in Europa gingen in der Vergangenheit immer wieder Hand in Hand mit der teils gezielten Verbreitung antijüdischer und antisemitischer Verschwörungsmythen, wie der Antisemitismus-Beauftragter von Baden-Württemberg, Michael Blume, religion.ORF.at erzählte. „Immer dann, wenn neue Medien auftreten“, sei auch „eine neue Welle des Antisemitismus“ gekommen.

Reichskanzler Adolf Hitler hält eine Rede vor dem Reichstag in Berlin
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Die Nationalsozialisten nutzten die damals neuen elektronischen Medien für ihre Propaganda

Krude Mythen über Hexen und Juden

So wurde im 12. und 13. Jahrhundert verbreitet, „Juden und Frauen würden gemeinsam den Hexensabbat begehen“. Es hieß, sie würden christliche „Kinder töten und daraus Hexenbalsam herstellen“. Die Ritualmordvorwürfe seien natürlich „verrückt“, aber sie „haben vielen Menschen das Leben gekostet“, so Blume. Große Verbreitung in Europa fanden die Ritualmordlegenden durch die revolutionäre Technik des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Diffamierende Schriften konnten rasch vervielfältigt und transportiert werden und erreichten erstmals Massen.

Ritualmordlegenden fanden ihren Weg auch nach Österreich. Hier wurde etwa der Kult um das angebliche Ritualmordopfer „Anderl von Rinn“ in Tirol erst 1994 von der römisch-katholischen Kirche verboten, nachdem sie anerkannte, dass es das behauptete Ritualmordmartyrium nie gegeben hatte.

Von Verschwörungsmythen zu Pestpogromen

Besonders grausame Folgen hatte auch die Verbreitung des Verschwörungsmythos, Jüdinnen und Juden hätten durch die Vergiftung von Brunnen die Pest ausgelöst. Tausende Jüdinnen und Juden in Europa wurden ermordet, ganze jüdische Gemeinden ausgelöscht.

„Antisemitismus und Verschwörungsmythen treten immer dann auf, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie verstehen die Welt nicht mehr“, sagte der Religionswissenschaftler Blume. Es ist daher nicht verwunderlich, dass schon zu Beginn der Coronavirus-Pandemie jüdische Gemeinden frühzeitig vor einem Wiederaufflammen antisemitischer Verschwörungsmythen warnten. Die Sorge stellte sich als begründet heraus.

Juden werden verbrannt vor den Mauern der Stadt. Miniatur von Pierart dou Tielt (1340-1360)
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Juden wurden im Zuge der Pestpogrome bei lebendigem Leib verbrannt

Auf Krisen folgt Antisemitismus

Von „leidvollen Erfahrungen“ jüdischer Gemeinden mit Verschwörungsmythen, sprach Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), im Gespräch mit religion.ORF.at. Im Laufe der Geschichte hätten Jüdinnen und Juden „von antisemitischen Übergriffen bis hin zu Pogromen“ viel erlebt. Daher sei man sich, „als die Pandemie losgegangen ist“, schon bewusst gewesen, dass es wahrscheinlich wieder zu mehr Verschwörungsmythen kommen werde.

In der Finanzkrise 2008 sah man sich mit Verschwörungsmythen konfrontiert, dass das „Finanzjudentum“ dahinterstecke. Und auch an der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 habe man Jüdinnen und Juden die Schuld gegeben, sagte Nägele. Antisemiten verbreiteten vor allem im Internet, Juden würden „die weiße Rasse zerstören wollen, indem sie Migranten nach Europa lotsen“. In dem ungarischen Philanthropen, Investor und Holocaust-Überlebenden George Soros manifestierten sich die Verschwörungserzählungen. In ihm fanden Antisemiten, Rassisten und Mitläufer rasch ein Feindbild.

Weltverschwörungsmythen im Netz

Jüdinnen und Juden seien auch heute noch oft mit Verschwörungsmythen konfrontiert, „heutzutage vorrangig im Netz“, sagte die Journalistin und Autorin Alexia Weiss zu religion.ORF.at. Sie beobachte, dass in Debatten über verschiedenste Themen, wieder „Töne angeschlagen werden“, die an die Mythen von einer „jüdischen Weltverschwörung erinnern, wo Menschen meinen, Juden hätten so viel Macht“.

Weiss: „Man findet im Netz Seiten, die wirklich schlimmste Stereotype bewusst verbreiten.“ Die seien „im rechten Spektrum angesiedelt“, doch gebe es auch auf sehr linker Seite Kapitalismuskritik-Geschichten, „die in Richtung dieser Finanzmarktweltverschwörung gehen“.

Die Coronavirus-Pandemie entpuppte sich wie so viele Krisen davor als Motor für Verschwörungsmythen. In Sozialen Netzwerken werden Jüdinnen und Juden von rechtsextremen Coronavirus-Leugnern etwa als Drahtzieher der Pandemie verunglimpft. Dieser Tage gehen Antisemitinnen und Antisemiten verdeckter vor, wie IKG-Generalsekretär Nägele sagte. Sie würden oftmals Codes verwenden, anstatt direkt von den Juden zu sprechen.

Neue alte Verschwörungsmythen

Als Synonym fungieren etwa Bezeichnungen wie „die Finanzelite“ oder Namen wie George Soros und die Rothschilds. Neu sind allerdings nur die Methoden, denn die Verschwörungsmythen sind noch immer die gleichen wie aus dem Mittelalter.

Die Mythen werden „immer neu aktualisiert“, wie Blume sagte. So verbreiten Anhängerinnen und Anhänger der rechtsextremen Bewegung QAnon, eine Elite würde Kinder in Kellern festhalten, um aus ihnen das Stoffwechselprodukt Adrenochrom für Verjüngungskuren zu gewinnen. Es ist die abstruse Ritualmordlegende – abgewandelt für das 21. Jahrhundert.

Aufstehen gegen Antisemitismus

Wie gefährlich die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen sind, haben Tausende Jahre Geschichte bewiesen. Dass in Europa Jüdinnen und Juden auch heute noch Opfer von Mordanschlägen werden, zeigt 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa ein Blick nach Frankreich. Wichtig im Kampf gegen Antisemitismus ist laut Generalsekretär Nägele neben Offenheit gegenüber und Kontakt zu der jüdischen Gemeinde auch, sich klar gegen Antisemitismus auszusprechen.

Ob einem Antisemitismus am Stammtisch, im Fußballstadion, im eigenen Familienkreis oder in der Straßenbahn begegne – „dagegen aufstehen, sich klar dazu bekennen, dass man Antisemitismus nicht toleriert, nicht akzeptiert und dass man anders denkt“, sagte Nägele. Damit man nicht einer „sehr lauten Minderheit in unserer österreichischen Gesellschaft diese wirklich üblen Verschwörungsmythen propagieren lässt – ob das jetzt online oder offline im echten Leben ist“.