Missbrauch

Theologin untersucht sexuelle Gewalt durch Priester

Die deutsche Theologin Doris Reisinger hat in einem neuen Forschungsprojekt Fälle von Übergriffen katholischer Priester weltweit untersucht, die ihre minderjährigen Opfer geschwängert oder zur Abtreibung genötigt haben sollen.

„Ich hoffe, dass es zu dieser Missbrauchsform noch mehr Forschung geben wird, um den Betroffenen das Sprechen darüber zu erleichtern“, sagte Reisinger laut deutscher Katholischer Nachrichten-Agentur (KNA) am Donnerstag bei einer von der Goethe-Universität Frankfurt veranstalteten digitalen Tagung zum Thema Machtmissbrauch.

Sie zeigte sich verwundert, dass es zu dieser Form sexualisierter Gewalt, die Reisinger „reproduktive Gewalt“ nennt, bisher praktisch keine Forschung gebe. Sie arbeitete mit Quellen aus dem Archiv der Organisation Bishop Accountability, welches das „weltweit größte unabhängige Archiv zu sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige in der katholischen Kirche“ sei.

„Dutzende solcher Fälle“

In diesem Archiv habe sie „Dutzende solcher Fälle“ gefunden, die sich über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckten. „Der älteste Hinweis auf einen Abtreibungsversuch in einer mir vorliegenden Personalakte stammt aus dem Jahr 1949; das jüngste Gerichtsverfahren in einem solchen Fall, zu dem ich Akten vorliegen habe, fand 2019 statt“, sagte Reisinger.

Theologin und Autorin Doris Reisinger (Wagner)
Andrea Schombara
Theologin Reisinger

In vielen Fällen gäben Täter den betroffenen Mädchen das Gefühl, „es sei eine Liebesgeschichte“. Missbrauchsbetroffene würden die ihnen vom Täter auferlegten Geheimhaltungspflichten oft als eine „Art Bringschuld“ betrachten oder fühlten sich verantwortlich für den Ruf des klerikalen Täters. „Viele lassen sich nur deswegen zur Abtreibung oder – nach der Geburt eines Kindes – zur Adoptionsfreigabe überreden“, sagte Reisinger.

„Opfer fühlen sich als Täterinnen“

Dazu komme, dass nach der Lehre der katholischen Kirche nicht nur Abtreibung, sondern auch das Nutzen von Verhütungsmitteln sowie außereheliche Schwangerschaften „zur Sünde erklärt“ seien. Damit erhöhe sich die Verletzlichkeit minderjähriger Frauen, die infolge von sexualisierter Gewalt durch Priester schwanger geworden seien. „Die betroffenen Mädchen fühlen sich oft nicht als Opfer, sondern als Täterinnen – und kirchliche Akteure bestätigen sie direkt in diesem Glauben“, sagte Reisinger.

Die Täter seien innerkirchlich hingegen meist straflos ausgegangen. Schuldig gewordene Priester hätten noch viele Jahre oder Jahrzehnte nach den Taten im Amt verbleiben können. „In keinem der Fälle, die ich gesehen habe, sind Priester deswegen suspendiert worden“, sagte Reisinger. Die ehemalige Ordensfrau und Missbrauchsbetroffene Reisinger (ehem. Wagner) ist Mitautorin des im März erschienenen Buches „Nur die Wahrheit rettet: Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger“.

Moraltheologe: „Verstörend“

Der katholische Moraltheologe Christof Mandry nannte die neuen Forschungsergebnisse Reisingers „verstörend“. Nach seiner Ansicht ist das Problem des sexuellen Missbrauchs in Kirche und Gesellschaft in der Vergangenheit oft generell nicht ernst genug genommen worden. Es habe „eine erschreckende Leichtigkeit des Missbrauchs“ gegeben, sagte Mandry bei der Frankfurter Tagung. Mandry hat Erzählungen von Missbrauchsbetroffenen untersucht.

Er sprach davon, dass die Unterlegenheitssituation von Betroffenen, meist Kinder und Jugendliche, oft auf eine „Dreistigkeit und Perfidität der Täter“ treffe. Die Täter bauten systematisch ein Vertrauensverhältnis auf, um es anschließend auszunutzen.