Justitia mit Schwert, Augenbinde, Waage
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Ethik

Rechtsphilosophin: Totale Gerechtigkeit zum „Gruseln“

„Was ist gerecht?" Diese Frage diskutierten die Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner, der Sozialethiker Clemens Sedmak und die Chefärztin für forensische Psychiatrie Adelheid Kastner am Dienstagabend im ORF. Einig waren sie sich darin, dass es eine Debatte über Gerechtigkeit brauche. Die Vorstellung von totaler Gerechtigkeit sei laut Holzleithner aber zum „Gruseln“.

Seit der Antike beschäftigt Menschen die Frage: Was ist gerecht? Zahlreiche Fortschritte wurden seitdem auf moralischer und rechtlicher Ebene erzielt und doch zeigen sich auch heute ungerechte Verhältnisse an allen Ecken und Enden. Wie dringend notwendig die Diskussion von Gerechtigkeitsfragen ist, zeigt sich an der Ungerechtigkeit weltweit: Etwa daran, dass 162 Milliardäre so viel besitzen wie die halbe Weltbevölkerung. Gleichzeitig leben Millionen von Menschen in extremer Armut.

Das heißt, dass sie jeden Tag um ihr Überleben kämpfen müssen. Die Coronavirus-Krise hat die Situation für viele noch verschärft. Erstaunlich ist, dass eine breite Diskussion über Gerechtigkeitsfragen bisher dennoch kaum stattfindet. Dabei bräuchte es genau das, sagten Expertinnen und Experten, am Dienstag in der ORF-Gesprächsreihe „Kreuz und Quer gedacht“ im Stift Admont. Moderiert wurde das Gespräch von dem Kabarettisten Stefan Haider.

kreuz und quer gedacht – aus dem Stift Admont: Gerechtigkeit

Das Leben in unsicheren Zeiten wirft die Frage nach Verlässlichkeit neu auf: Was hat sich bewährt? Was hat in Krisen und bei großen Herausforderungen geholfen? Die große abendländische Tradition sieht in den „Tugenden“ jene Fähigkeit des Menschen, die ein umfassendes Glücken des persönlichen und sozialen Lebens ermöglicht.

Seit der Antike „höchste Tugend“

Seit der griechischen Antike gilt die Gerechtigkeit als höchste Tugend des Zusammenlebens. Als vorbildliche Haltung also, die dazu beiträgt, dass das Leben gelingt. In der Antike wie heute ist aber umstritten, was Gerechtigkeit überhaupt ist.

Die Psychiaterin Kastner sagte, dass das Gerechtigkeitsempfinden zwar subjektiv ist: „Gleichzeitig wisse man heute aber, dass das Gerechtigkeitsempfinden nicht nur erlernt wird. Es ist auch biologisch angelegt.“ „Menschen haben also“, so die Chefärztin für forensische Psychiatrie, „eine organische Ausrichtung auf Gerechtigkeit.“

Fixpunkte der Gerechtigkeit

Die Rechtsphilosophin Holzleithner ist überzeugt, dass es zudem Fixpunkte der Gerechtigkeit gibt, die Menschen im Laufe der Geschichte gelernt haben. Dass die Diskussion über Gerechtigkeit dennoch so schwierig ist, liegt daran, dass sich im Streben nach Gerechtigkeit immer ein Wechselspiel zeigt: „Im Ringen um Gerechtigkeit verfolgen wir immer unsere eigenen Interessen und die der Anderen.“

Weil das so ist, verlangt die Gerechtigkeit nach einer unparteilichen Instanz, die Entscheidungen im Einzelfall objektiv treffen kann. Wie aber kann das gelingen, wenn jeder und jede immer auch eigene Interessen verfolgt?

Gerechtigkeit braucht Distanz

Der Sozialethiker Sedmak ist der Ansicht, dass es um gerechte Entscheidungen treffen zu können, eine gewisse Distanz brauche. Diese Überzeugung zeigt sich schon in der Darstellung der Justitia: Die römische Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens wird mit drei Kennzeichen dargestellt: Sie hält ein Schwert, um das Urteil zu besiegeln.

Ihre Waage macht deutlich, dass ein gerechtes Urteil eine sorgfältige Abwägung voraussetzt. Ihre Augenbinde symbolisiert, dass das Recht ohne Ansehen der Person – also unparteiisch – sein muss. Das Recht aber ist immer von Menschen gemacht. Wie unparteiisch kann es also sein?

Gerechte Menschen oder gerechte Strukturen?

„Man kann von Menschen keinen Heroismus verlangen“, sagte Sedmak. Der Mensch brauche gerechte Strukturen, um gut handeln und über Gerechtigkeit nachdenken zu können. Dem stimmte auch Holzleithner zu. Gleichzeitig betonte sie, dass man realistisch sein muss: „Gerechte Strukturen, auf die sich alle Menschen einigen können, gibt es nicht. Auch weil Strukturen immer unvollkommen sind.“

Gerade deshalb müsse immer wieder überlegt werden, was Gerechtigkeit konkret heißt. Denn, so Holzleithner: „Was gerechte Verhältnisse sind, bedeutet für verschiedene Menschen verschiedenes.“ Erst recht, wenn man sich die Diskussion im Laufe der Geschichte ansieht.

Sehende Justitia

Wie gerecht die Gesellschaft empfunden wird, hänge wesentlich auch von der je eigenen Position ab, sagte Sedmak. Holzleithner zufolge, sei es nicht gerecht, Menschen einfach über einen Kamm zu scheren und individuelle Bedürfnisse zu ignorieren, weil die Lebensrealitäten höchst unterschiedlich sind.

Sedmak ist überzeugt, dass zudem der je spezifische Kontext beachtet werden muss: „Die Justitia darf also gerade nicht blind sein, sondern muss auf den konkreten Einzelfall achten.“ Gleichzeitig aber müsse sie Menschen als Gleiche anerkennen, denen weitgehend gleiche Rechte zustehen.

Justitia mit Waage und Schwert, ohne Augenbinde
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„Justitia darf nicht blind sein“, sagt der Sozialethiker Clemens Sedmak

Argwöhnische Tugend der Gerechtigkeit

Es gibt also ein Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung gleicher Menschenwürde und der Wertschätzung der Einzigartigkeit des Menschen. In der Praxis zählt die richtige Balance zwischen diesen beiden Polen. Wie Holzleithner erinnert, darf dabei nicht vergessen werden: „Die, die mit Scheuklappen nach Gerechtigkeit streben, können die größte Ungerechtigkeit hervorrufen.“

Auch deshalb bringe sie die Vorstellung nach einer totalen Gerechtigkeit zum Gruseln. Schon in der Antike wurde betont: Gerechte Normen dürfen nicht einfach schematisch angewandt werden. Diese Fähigkeit wurde in der Antike Epikie genannt: zu sehen, dass die Gerechtigkeit es verlangen kann, sich gerade nicht an das (sonst gerechte) Gesetz zu halten, weil das in spezifischen Fällen dennoch zu Ungerechtigkeit führen kann.

Ungerechtigkeit aushalten können

In einer Empörungskultur kommt diese Fähigkeit der Epikie oft zu kurz, sagte Kastner. Ebenso die Fähigkeit Unvollkommenheit auszuhalten und sich zurückzunehmen: „Es braucht das Streben, um die Verhältnisse zu verbessern, aber auch die Weisheit, um anerkennen und aushalten zu können, dass die Gesellschaften und ihre Strukturen nicht perfekt sind.“

Sedmak empfiehlt Humor, um Ungerechtigkeit auch aushalten zu können. Dies stärke auch die Widerstandsfähigkeit um überhaupt „sehenden Auges durch die Welt gehen zu können.“

Ein Appell: Nicht nur über Gerechtigkeit reden

Gerechtigkeit muss auch als „Tugend der kleinen Schritte verstanden werden.“ Hier müssen alle mitgehen können, sagt Sedmak. Es geht, so der Sozialethiker, wesentlich auch um eigene Handlungsmacht.

Als konkretes Beispiel nannte er den Arbeitsmarkt und kritisierte, Langzeitarbeitslosen würde eingeredet, sie wären selbst Schuld an ihren Umständen. Ein solcher Zugang lenke von ungerechten Strukturen ab. Vielmehr sollte alles darangesetzt werden, ungerechte Strukturen gemeinsam zu ändern.