Wiener Dipthychon, linke Seite: Der Sündenfall, Hugo von der Goes (1477), Öl auf Eiche, KHM Wien
Public Domain/Wikipedia
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Ikonografie

Die geheime Sprache der Bilder

Wer im Mittelalter eine Reise machte und über das nötige Geld verfügte, hatte gewöhnlich einen „Reisealtar“ in Form eines aufklappbaren Andachtsbilds bei sich. Doch davor wurde nicht nur gebetet, die Bilder konnten auch theologische Botschaften und Codes enthalten – eine geheime, fast vergessene Sprache der Bilder.

Diese Bilder in Form eines Triptychons oder Diptychons (drei- bzw. zweiflügelige, zusammenklappbare Bilder) schmückten Hausaltäre, sie konnten aber auch auf Reisen mitgenommen werden, sagte Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Johannes Domsich im Gespräch mit religion.ORF.at im Rahmen eines Besuchs im Kunsthistorischen Museum Wien (KHM).

Diese Andachtsbilder waren kostbar und teuer, gewiss auch Statussymbole. Kleriker und Laien nahmen sie im Handgepäck mit, erklärte Domsich, die Bilder wurden dann am Ankunftsort in einer Kapelle auf einen Altar gestellt. Neben ihrer Funktion als Andachtsbild hätten sie aber den Rahmen für ein „intellektuelles Spiel mit Bedeutungen“ dargestellt: „Es geht um den Dialog.“ Man habe das eigene Bild mitgebracht und darüber gesprochen, „man brachte Weltbilder in die Welt“, so Domsich. Gleichzeitig sei man auf Reisen auch anderen Bildern begegnet.

Diptychon mit Sündenfall und Erlösung (Beweinung Christi): Sündenfall, Hugo von der Goes (nach 1479), Öl auf Eichenholz, Bildmaß: 33,8 × 22,9 cm, KHM Wien
KHM-Museumsverband Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie
Wiener Diptychon mit Sündenfall und Beweinung Christi, Hugo van der Goes (1440–1482), nach 1479, Öl auf Eichenholz, KHM Wien

Häretisches Potenzial

In Mittelalter und früher Neuzeit bekamen die Menschen gewöhnlich zeit ihres Lebens nur wenige Bilder zu sehen. „Die Bildverwendung der heutigen Zeit ist eine völlig andere – heute gibt es bei Bildern eine enorme Flüchtigkeit“, so Domsich. Wer ein solches Andachtsbild in Auftrag gab oder kaufte, dem oder der ging es auch um die Botschaft – und die konnte durchaus häretisches Potenzial in sich tragen.

So auch das als Wiener Diptychon bekannte, auf Eichenholz gestaltete Ölgemälde des flämischen Meisters Hugo van der Goes (um 1440–1482), das im KHM hängt. „Das Wiener Diptychon dient einem theologischen Disput“, so Domsich. „Intellektuelle Zeitgenossen Hugos verstanden diese Codes und verwendeten sie, um sich über theologische Themen auszutauschen, ohne in Konflikt mit dem Klerus zu geraten.“

Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Johannes Domsich
JD
Gemälde dienten im Mittelalter als Grundlage für theologische Dispute, so Kulturwissenschaftler Domsich

Es besteht aus drei Teilen – ein vierter, ein Teil der Rückseite, ist nicht erhalten -, und befand sich in Privatbesitz. Es ist im Stil der internationalen Gotik (auch Schöner oder Weicher Stil) ausgeführt, der damals in ganz Europa als Standard galt. An den kleinen, filigranen Bildern könnte man leicht vorbeigehen. Die Geschichten, die das Diptychon darstellt, den Sündenfall und die Beweinung Christi, glaubt man in- und auswendig zu kennen. Aber es steckt viel mehr dahinter.

Das Teuferl auf der Schulter

Bereits das ursprüngliche Deckblatt des Werks werfe eine Frage auf, so der Kulturwissenschaftler: Es zeigt die französische Heilige Genoveva, die Schutzpatronin von Paris, als Steinstatue in Grisaille-Technik in Beige- und Grautönen.

Buchhinweis

Johannes Domsich: Ver Icon. Was Bilder erzählen. Malerei des Nordens. Dachbuch Verlag, 112 Seiten, 13,90 Euro

Die Heilige hält ein Buch in Händen, auf ihrer Schulter sitzt ein kleiner Teufel, der versucht, ihre Kerze auszublasen – wo bleibt die Gewissheit des Glaubens, wenn die Heilige Schrift im Dunkeln bleibt? In den Zwickeln des Gemäldes werden das von Gott nicht gewürdigte Opfer Kains und der Brudermord an Abel behandelt – „Schuld und Sühne sind die Themen. Die Frage ist die nach der Gerechtigkeit Gottes.“

Hier werde bereits das theologische Thema des Werks angerissen, so der Kunsthistoriker, das dann im linken Tafelbild mit dem Sündenfall zur Entfaltung gebracht wird. Die Konsequenz, das Opfer von Gottes Sohn, sieht man gleich daneben. „Hugo van der Goes stellt Fragen“, so Domsich dazu auch in seinem Buch „Ver Icon. Was Bilder erzählen“. „Wozu ein Baum der Erkenntnis im Garten Gottes? Warum die Verführung von Adam und Eva?“

Hl. Genoveva (in den Zwickeln das Opfer von Kain und Abel und Kains Brudermord), Außenseite des Diptychons mit Sündenfall und Erlösung (Beweinung Christi): Sündenfall, Hugo von der Goes (nach 1479)
KHM-Museumsverband Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie
Oben Kain vs. Abel, unten die Heilige Genoveva mit Bibel, Licht und Teuferl

Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes zu stellen war gewiss heikel – angefangen mit Adam und Eva und direkt weiter dem Brüderpaar Kain und Abel verhandelt das Wiener Diptychon genau diese, von der Sünde bis hin zur Linderung von Strafen und schließlich zur Erlösung. Und der Künstler stellt sie mit allen Feinheiten der Ikonografie des ausgehenden Mittelalters dar: Jede Blume, jedes Kraut und jede Farbe in diesem Paradiesgarten hat eine eigene Bedeutung, die damals überall in Europa verstanden worden sei, so der Kulturwissenschaftler.

Das doppeldeutige Kainsmal

Gedeutet nach dieser „floralen Bildsprache“ stehen auch kleinste Blümchen hier zum Teil sowohl für die Strafe für die Sünde, die sie gerade im Begriff sind zu begehen – Evas künftige Mühen der Reproduktionsarbeit, Adams Schuften für den Lebensunterhalt -, als auch für alles, was hilft.

Unter dem Vorzeichen des Schicksals von Kain, der ja durch das Kainsmal nicht nur Strafe (durch Verbannung) und Kennzeichnung als Sünder, sondern auch Schutz erfährt, wie in Gen 4,15 beschrieben ist: „Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.“

Wiener Dipthychon, linke Seite: Der Sündenfall, Hugo von der Goes (1477), Öl auf Eiche, KHM Wien
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Der Sündenfall: Eva pflückt eine Frucht vom Baum der Erkenntnis für Adam, die Schlange schaut zu

Durch die Blume

Und so deute das Löffelkraut neben Evas Füßen auf (kommende) Menstruationsbeschwerden hin – die es zugleich als pflanzliches Mittel auch lindern kann. Ähnliches „erzähle“ der Himbeerstrauch hinter Adam. Zwar stehe die Himbeere in der mittelalterlichen Symbolik für sexuelle Gelüste, ihre Blätter werden aber bis heute als Tee aufgebrüht, um Gebärenden Erleichterung zu verschaffen. Auch die Koralle, rechts neben der Schlange, steht für Menstruation und Geburtsschmerz, die aufgebrochene Muschel für den Verlust der Unschuld.

Neben diesen bedeutungsschweren Details besticht bei van der Goes die genaue wie originelle Ausführung bekannter Motive: Sehr speziell ist etwa die Schlange, die sich, mit Frauenkopf und Echsenkörper, eher unbeteiligt am Geschehen zeigt. Mit Eva verbindet sie, neben dem langen, im Fall der „Schlange“ zu Hörnchen geflochtenen Haar, die Farbe Blau: Es findet sich auf dem Rücken des teuflischen Tiers ebenso wie in der blauen Iris, die diskret vor Eva platziert ist, und steht für die irdische Weiblichkeit.

Apfel und Eisvogel

Das Blau findet sich auch im Eisvogel – hinter der Schlange – wieder, „ein Symbol ungezügelter sexueller Begierde“. Hier sind Auswirkungen und Endpunkt der die Erbsünde auslösenden Handlung Evas, die sich im zweiten Teil des Diptychons mit dem Opfer Christi erfüllen, schon vielfach angedeutet.

Viele Früchte hängen am Baum der Erkenntnis, doch nur zwei sind reif. Während Adam noch, vor dem Biss in den Apfel, ein bisschen roboterhaft dreinschaut, blitzt in Evas Blick schon die Erkenntnis auf – die Frucht in ihrer Hand ist bereits angebissen.