Ein Taliban-Kämpfer geht an einem Schönheitsalon vorbei. Frauengesichter sind übermalt worden
APA/AFP/Wakil Kohsar
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Afghanistan

Die Ideologie der Taliban

Seit die radikalislamischen Taliban ganz Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht haben, wächst die Angst in der Bevölkerung vor der Etablierung eines islamischen Staates, in dem ein Rechtssystem wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds gilt.

Die Preise der blauen Burka, der Vollverschleierung für Musliminnen, sind seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan in die Höhe geschossen. Grund dafür ist die hohe Nachfrage aus der Bevölkerung. Denn viele Frauen im Land fürchten sich vor den strikten Regeln der Islamisten und kaufen sich schon vorauseilend die Vollverschleierung.

Obwohl die radikalislamische Miliz bisher keine offiziellen Regeln verlautbart hat, ist ihr Ziel schon jetzt klar: Die Errichtung eines Gottesstaates, in dem ausschließlich islamisches Recht nach ihrer Interpretation gilt.

Furcht vor neuer Schreckensherrschaft

Die Angst vor einer erneuten Taliban-Herrschaft sitzt tief in den Knochen der Afghaninnen und Afghanen. Schon von 1996 bis 2001 haben die Extremisten ein grausames Regime geführt, in dem strukturelle Gewalt und Hinrichtungen bei Vergehen nach „islamischem Recht“ den Alltag in Afghanistan geprägt haben. Besonders für Frauen war die Herrschaft der Taliban brutal: Kein Zugang zu Bildung oder medizinischen Behandlungen, oft wurden junge Mädchen und Frauen zwangsverheiratet und durften ohne eine männliche Begleitung das Haus nicht verlassen.

Auch die Afghanistan-Expertin Gabriele Rasuly-Paleczek von der Universität Wien befürchtet, dass vor allem Frauen und Mädchen unter der neuen Herrschaft viele Rechte, die ihnen in den vergangenen 20 Jahren gegeben wurden, nun wieder verlieren könnten. Die Expertin hofft aber auch, dass der Fortschritt der letzten 20 Jahre besonders im urbanen Raum derart gefestigt ist, dass die Taliban Zugeständnisse machen müssen.

Eine Frau mit Burka in Afghanistan
APA/AFP/Aref Karimi
Frauen müssen derzeit wieder verstärkt um ihre Rechte und Sicherheit fürchten

Experte ortet „Tabubruch“

Die Etablierung eines erneuten „Islamischen Emirats Afghanistan“ würde ein „Leben wie vor 2000 Jahren bedeuten“, sagt der deutsch-afghanische Islamwissenschafter Ahmad Milad Karimi von der Universität Münster. Die Islamisten streben eine Rechtsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds im 7. Jahrhundert an.

Für den Experten begehen die Taliban damit einen „Traditionsbruch im Islam“. Denn der Islam sei eine pluralistische Religion, die Gelehrtes immer diskursiv erarbeitet und immer auch erneuert habe: „Deren Interpretation ist derart verinnerlicht, als wäre das die Wahrheit selbst. Daher sind sie auch pluralitätsfeindlich, denkfeindlich, reflexionsfeindlich. Es wird im Grunde genommen lediglich auswendig gelernt, was zu gelten hat.“

Scharia ist immer „relativ“

Die Scharia ist kein kodifiziertes Gesetzbuch, sondern die Summe aller abgeleiteten moralisch-ethischen Verhaltensregeln für gläubige Musliminnen und Muslime. Da es sich immer um menschliche Interpretationen des Koran handelt, sind diese auch immer fehlbar und relativ, erklärt Karimi.

Die Taliban „verschärfen das Ganze auf eine ganz eigene, antiquierte Weise. Sie nehmen ein bestimmtes Verständnis, begreifen dieses aber als die Scharia selbst und urteilen über alle Menschen nach dieser Gesetzgebung. Sodass es keine Alternativen mehr geben kann, keine Dynamik, keine Entwicklung, keine lebensnahe Auslegung göttlicher Vorschrift.“

Sendungshinweis

Religionen der Welt „Die Ideologie der Taliban“ Samstag, 21.8.2021, 16:55 Uhr, ORF 2

Aufwind für Islamistische Ideologie

Expertinnen und Experten sind sich jedenfalls einig, dass der Siegeszug der Taliban in Afghanistan der Islamistischen Ideologie nicht nur regional, sondern auch global Aufwind geben wird. „Die Taliban machen das, wovon IS und al-Kaida nur träumen. Sie haben jetzt eine Wirkungsstätte, von der aus sie agieren können", sagt der Islamwissenschafter Karimi.

Im globalen Westen fürchte man besonders, dass die Taliban ein „Kalifat“ oder auch einen „heiligen Krieg“ ausrufen. Der Experte würde das zumindest von der theokratischen Vorstellung der Miliz für „konsequent“ halten. „Denn die Taliban verstehen auch ihre weltliche Tat religiös. Darin liegt gerade ihre Ideologie: Nichts was sie tun ist areligiös.“

Taliban keine einheitliche Organisation

Auch innerhalb der Taliban gibt es unterschiedliche Netzwerke, betont Rasuly-Paleczek. „Oft bekommt man den Eindruck, dass die Taliban einheitlich sind. Dem ist aber nicht so.“ Wichtig sind vor allem das Haqqani Netzwerk, das in den vergangenen Jahren stark vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt wurde und für zahlreiche Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht wird.

Konkurrierend zu diesem Netzwerk ist das der Quetta Shura. Laut Rasuly-Paleczek haben sich diese Gruppierungen in ihrer Radikalisierung gegenseitig übertreffen wollen. „Im Vergleich zur ersten Taliban-Herrschaft“, meint die Expertin „scheint die jüngere Generation doch radikaler zu sein.“ Für Rasuly-Paleczek ist deshalb fraglich „wie weit die Taliban-Führung tatsächlich die konkurrierenden Netzwerke auf längere Sicht disziplinieren kann.“

Talibansprecher Zabihullah Mujahid bei der ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan
APA/AFP/Hoshang Hashimi
Talibansprecher Zabihullah Mujahid sprach bei der ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme auch von Frauenrechten

Wieder einer anderen Gruppierung haben jene Taliban-Führer angehört, die zwei Tage nach der Eroberung Kabuls die erste Pressekonferenz gegeben haben. Es sind die Taliban-Anführer, die zum harten Kern der Miliz gehören und in den vergangenen Jahren ihre politische Arbeit aus dem arabischen Emirat Katar geführt haben. Es sind auch jene, die ab dem Jahr 2019 unter US-Präsident Donald Trump Friedensgespräche mit den USA geführt haben. Damals gab es große Zugeständnisse an die Islamisten. Zahlreiche Häftlinge und auch Anführer wurden entlassen.

Alte Ideologie mit neuer Taktik

Bei dieser ersten Pressekonferenz zeigten sich die Taliban-Anführer moderat: Die Taliban wollen ihren Feinden „Amnestie“ gewähren und Frauenrechte weiter wahren – solange diese mit dem „islamischen Recht“ vereinbar seien, erklärten sie. Details wurden aber ausgespart.

Für den Islamwissenschafter Karimi ist diese Taktik der moderateren Töne kein Zufall: „Für mich ist es augenscheinlich, dass es da Vereinbarungen mit den USA gab.“ Karimi sieht in dem liberalen Ansatz der Extremisten nur Taktik, denn die Denkweise der Taliban sei gleich geblieben: „Ihre Vorstellung ist: Es gibt einen ganz klaren Islam, der zwischen Gut und Böse ganz klar unterscheidet. Und weil sie es ja zu wissen glauben, sei es auch ihre Pflicht es durchzusetzen". Es gäbe für sie keinen Raum, „der religionsfrei“ ist.