Pilgerschwerpunkt

Pilgern und Wandern: Ich denke, also gehe ich

Beim Gehen kann man nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst kennenlernen und sein Ego loslassen. Heute boomen Gehen, Wandern und Pilgern – und dafür gibt es gute Gründe.

Das Wandern ist vermutlich so alt wie die menschliche Kultur. Jäger und Sammler, später auch Hirten und Händler, waren auf Wanderschaft, weil es das Überleben abverlangte. Doch niemand dachte im Altertum daran, freiwillig und zwecklos durch die gefährliche Natur oder gar über die Alpen zu marschieren. Das entsteht erst spät, in der Romantik, als Gegenbewegung zur Entfremdung des Menschen von der Natur durch ein Leben in industrialisierten, urbanen Zentren.

Heute ist Wandern zu einer boomenden Aktivität geworden, die sich im Alpenraum auf eine reich vernetzte Infrastruktur mit Wegen und Hütten stützen kann. Dass die gehende Bewegung gesund ist und der körperlichen Fitness dient, ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist, dass das Wandern genauso der geistigen Fitness dient.

Eine Gruppe Wanderinnen und Wanderer gehen über eine Wiese bergauf
Johannes Kaup
Wandern dient nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Fitness

Wer sich bewegt, wandelt sich, weil er aus dem Gewohnten und Festgefahrenen aufbricht. Dadurch lernt er nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst kennen. Wandern kann so zu einem Meditieren mit den Füssen werden. In diesem Fall fallen dann die „vita activa“, ein tätiges Leben und die „vita contemplativa“, ein Leben in Betrachtung, zusammen.

Denken und Gehen – Gehen und Denken

Das Pilgern wiederum ist die älteste freiwillige Form des Wanderns. Wer pilgert hat einerseits ein örtlich definiertes Ziel, einen heiligen Ort, an dem er oder sie ankommen will. Aber die Pilgerin oder der Pilger hat sich auf ihrem langen Weg bewusst ein geistiges Ziel gesetzt, das sie durch die Anstrengungen des eigenen Körpers erreichen will.

Sendungshinweis

„Meditieren mit den Füßen“, Logos 25.9.2021 19.05 Uhr, Ö1.

„Eine Pilgerschaft macht es möglich, dass man sich physisch durch die Anstrengungen des eigenen Körpers, Schritt für Schritt auf jene immateriellen Ziele zubewegt, die sonst schwer zu fassen sind“, schreibt die Schriftstellerin Rebecca Solnit in ihrem Buch „Wanderlust“.

Eine Bank auf dem Weg in die Berge
Johannes Kaup
Wandern wird auch als Meditieren mit den Füßen bezeichnet

Dass Denken und Gehen zusammenhängen wussten bereits die antiken Philosophen, die Schule der griechischen Peripatetiker. Aristoteles und seine Schüler dachten beim Gehen und entwickelten dabei die Begriffe der abendländischen Zivilisation. Die Peripatetiker sind die stillen Vorbilder für Schriftsteller, Maler und Musiker, für die Denkerinnen und Denker bis in die Moderne.

Beim Wandern braucht man nicht viel

Das Denken entsteht aus der Bewegung und ist auf die Bewegung hingerichtet. Das zeigt auch die Herkunft des Wortes Wandern. Das deutsche Wort „Wandern“ kommt vom althochdeutschen „wanton“ und bedeutet wandeln, oder hin- und hergehen.

„Was mir besonders gefällt beim Wandern ist das Puristische, dass man so wenig braucht und damit zufrieden ist. Es würde reichen, nur zu gehen im Leben“, sagt Helga Peskoller, die an der Universität Innsbruck Pädagogik mit Schwerpunkt Historische Anthropologie und Ästhetische Bildung lehrt. Peskoller hat sich mit ihren Büchern „BergDenken“ und „Extrem“ den Ruf einer Berg- Und Wanderphilosophin erworben.

Kühe auf einer Weide im Gebirge
Johannes Kaup
Seit der deutschen Romantik ist das Wandern in allen gesellschaftlichen Kreisen verbreitet

Wandern – eine demokratische Tätigkeit

In der deutschen Romantik entsteht eine Wanderlust, die breite gesellschaftliche Kreise erfasst. Dass das Wandern des Müllers Lust ist, verweist auch darauf, dass es eine demokratische Tätigkeit ist. Wenn man sich auf der Straße mit Fahrzeugen fortbewegt, markiert man auch soziale Unterschiede. Aber auf dem Wanderweg sind alle gleich und begegnen sich auf Augenhöhe. Wandern ist eine Form, das Außergewöhnliche im ganz Alltäglichen zu entdecken und eine Form, sich selbst neu zu erfahren.

„Wandern ist die Freiheitserfahrung schlechthin“, sagt der in Berlin lebende Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Musiker Florian Werner. Er hat mehrere Bücher über das Wandern veröffentlicht, zuletzt „Auf Wanderschaft. Ein Streifzug durch Natur und Sprache“.

Verlorenes wiederfinden

Zurückfinden zu etwas, was wir verloren haben. Das gelingt uns, wenn wir aufbrechen, wenn wir uns berühren lassen von dem, was uns auf den Wanderungen begegnet. Eine Erfahrung, die auch der Schriftsteller Ilija Trojanow kennt und in seinem Buch „Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß“ verarbeitet hat. Bei einer Bergwanderung auf den Gipfel des Mount Kenya hat er im Alter von 17 Jahren das erste Mal das Gefühl des Erhabenen.

Gipfelkreuz über dem Wolkenmeer
Johannes Kaup
Auf einem Berggipfel spüre man „nicht nur, wie klein man ist. Sondern man spürt ein Glück, dass man Teil der Schöpfung ist“, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow

Man fühle sich als Teil eines großen Ganzen. „Es ist ein Gewinn für einen selber. Man spürt nicht nur, wie klein man ist. Sondern man spürt ein Glück, dass man Teil der Schöpfung ist. Im Moment der Erhabenheit erfährt man, dass das Überwinden des Egos eine Erhöhung des Eigenen ist“, so Trojanow.

Pilgern als Analogie zum Lebensweg

„Sobald der Mensch Religion hat, das heißt Transzendenz sucht und sich die Fragen stellt, woher komme ich und wohin gehe ich, beginnt er zu gehen und hat dazu auch heilige Orte“, sagt der Tiroler Jakobswegforscher und Pilger-Experte Peter Lindenthal. Die heiligen Orte sind meist mit Naturphänomenen verbunden, mit sogenannten Kraftplätzen wie Felsen, Quellen, landschaftlichen Erhebungen oder mächtigen Bäumen.

Die klassischen Ziele der christlichen Pilger waren Jerusalem und Rom. Im Mittelalter kam noch ein drittes hinzu. Die Grabstätte des Apostels Jakobus im nordwestspanischen Santiago de Compostela. Der Jakobsweg wird erstmals 1047 erwähnt.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat gerade der Jakobsweg eine internationale Renaissance erlebt. Wenn man auf dem sogenannten Camino eine Pilgerin oder einen Pilger überholt, ruft man diesen ein aufmunterndes „Ultreia" zu – „Weiter“. Beim Pilgern ist nicht nur das zu erreichende Ziel wichtig, sondern besonders der Weg dahin. Denn auf dem Pilgerweg kommen einem die Lebensthemen entgegen, die im Alltag oft ungelöst und verdrängt werden. Pilgern hilft so beim Wesentlich-Werden und beim Finden der inneren Freiheit.