Bericht über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute der katholischen Kirche Frankreichs, 5. Oktober 2021
APA/AFP/Thomas Coex
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Bericht

330.000 Missbrauchsopfer in katholischer Kirche Frankreichs

In Frankreich ist am Dienstag der Bericht einer Untersuchungskommission zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt worden. 330.000 Minderjährige sind zwischen 1950 und 2020 Opfer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche bzw. in von der Kirche betriebenen Einrichtungen in Frankreich geworden.

Das teilte eine unabhängige Untersuchungskommission am Dienstag in Paris mit. Der Bericht wurde der Bischofskonferenz übergeben. Der Untersuchung zufolge sollen sich in Frankreich rund 3.000 Priester und Ordensleute an rund 216.000 Kindern vergangen haben. Laut der katholischen Zeitung „La Croix“ (Onlineausgabe am Dienstag) beträgt die Gesamtzahl der Opfer 330.000, wenn man die Täter hinzurechne, die in Einrichtungen der katholischen Kirche arbeiteten, etwa an katholischen Schulen oder bei Jugendbewegungen.

Die Kommission macht auch Vorschläge zur Entschädigung von Opfern. Zahlreiche Fälle sind bereits verjährt und können nicht mehr vor Gericht gebracht werden. Zu etwa 80 Prozent waren die missbrauchten Kinder Buben zwischen zehn und 13 Jahren, 20 Prozent Mädchen unterschiedlicher Altersgruppen. Bei den Taten habe es sich in fast einem Drittel der Fälle um Vergewaltigungen gehandelt, hieß es in dem Bericht.

Kommissionspräsident Jean-Marc Sauve präsentiert den Bericht über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute der katholischen Kirche Frankreichs, 5. Oktober 2021
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Kommissionspräsident Sauve: „Die Auswirkungen sind sehr ernst“

Kommissionspräsident Jean-Marc Sauve sagte, dass die Schätzung auf wissenschaftlicher Forschung beruhe. Die Verbrechen seien von Priestern, anderen Geistlichen und auch Nichtgeistlichen begangen worden, die mit der Kirche zu tun gehabt hätten. „Die Auswirkungen sind sehr ernst“, sagte Sauve. „Ungefähr 60 Prozent der Männer und Frauen, die sexuell missbraucht wurden, haben es mit größeren Problemen in ihrem Gefühls- und Sexualleben zu tun.“

„Grausame Gleichgültigkeit gegenüber Opfern“

„Bis Anfang der 2000er Jahre gab es eine totale und grausame Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern“, sagte Sauve. Man habe den Betroffenen nicht geglaubt oder ihnen unterstellt, selber beteiligt gewesen zu sein. Es sei nur in seltenen Fällen eine Entschädigung gezahlt worden – und dann auch nur, um das Schweigen zu erreichen, sagte der Präsident der Kommission. „Die Kirche hat es nicht sehen oder wissen wollen“, betonte er. Zudem müssten das Kirchenrecht und die Ausbildung der Priester reformiert werden, forderte Sauve.

Francois Devaux, Gründer der Opfervereinigung „La parole liberee“, bei der Präsentation des Berichts über sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute der katholischen Kirche Frankreichs, 5. Oktober 2021
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Francois Devaux, Gründer der Opfervereinigung „La parole liberee“, bei der Präsentation des Berichts

Bischof bittet um Verzeihung

Die Kommission hatte in den vergangenen zweieinhalb Jahren Opfer und Angehörige befragt. Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Eric de Moulins-Beaufort, entschuldigte sich am Dienstag im Namen der katholischen Kirche. „Wir sind entsetzt“ über die Zahl der Opfer, sagte er. „Ihre Stimmen erschüttern uns, ihre Zahl sucht uns heim.“ Er bitte um Verzeihung, „Verzeihung für jeden von uns“, sagte Moulins-Beaufort in Richtung der Betroffenen.

2.500 Seiten starker Bericht

Der 2.500 Seiten starke Bericht zeigt das Ausmaß der Fälle in der katholischen Kirche und zieht Vergleiche zu sexuellen Übergriffen in anderen Institutionen wie Sportvereinen. Die Veröffentlichung des Berichts werde ein „schwerer Moment“, hieß es zuvor in einer Mitteilung der Bischöfe an die Kirchengemeinden.

Sexualverbrechen „größer als befürchtet“

Die Ergebnisse basierten auf Daten und Fakten aus Archiven aus Kirche, Justiz, Staatsanwaltschaft und Medien sowie auf den Zeugenaussagen, die das Gremium erhalten habe. Im Sommer 2020 hatte der zuständige Richter die Zahl der Fälle noch auf mindestens 3.000 und die der kirchlichen Täter auf rund 1.500 taxiert.

Der Bericht folgt dem Skandal rund um den Priester Bernard Preynat, der die katholische Kirche erschütterte: Im Vorjahr war Preynat wegen sexuellen Missbrauchs an über 75 Buben zu fünf Jahren Haft verurteilt worden – mehr dazu in Priester missbrauchte „vier bis fünf Kinder pro Woche“.

Eines von Preynats Opfern, der Gründer der Opfervereinigung „La parole liberee“, Francois Devaux, sagte: „Mit diesem Bericht geht die französische Kirche zum ersten Mal an die Wurzeln dieses systemischen Problems. Diese perverse Institution muss sich selbst reformieren.“ Devaux sagte weiter, die Opferzahl im Bericht sei „ein Minimum“ – einige Opfer würden es nicht wagen, zu sprechen.

Nur noch jeder Zweite katholisch

Die katholische Kirche in Frankreich zählt zu den traditionsreichsten und geistesgeschichtlich wichtigsten in Europa. Marksteine ihrer reichen Geschichte sind etwa für das christliche Mittelalter die Taufe von Frankenkönig Chlodwig, die Reichskirche Karls des Großen („Charlemagne“), die großen Ordensbewegungen und das „Zeitalter der Kathedralen“; weiter die Religionskriege des 16./17. Jahrhunderts, die nationalkirchliche Strömung des „Gallikanismus“, die Aufklärung und die Französische Revolution. Zu Frankreichs Kulturerbe gehören ungezählte Klöster und Kathedralen von Weltrang.

Nur noch jede bzw. jeder zweite der etwa 67 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Frankreichs bezeichnet sich heute als katholisch. Allerdings ist die Zahl der praktizierenden Katholiken und Katholikinnen, der Priester und der Ordensleute seit Jahrzehnten stark rückläufig. Selbst katholische Medien bezifferten die „Praktizierenden“ zuletzt mit nur noch zwei Prozent der Bevölkerung, mit unterschiedlicher regionaler Ausprägung. Dafür sind in Frankreich rechtskatholische, traditionalistische Strömungen vergleichsweise stark vertreten.