Norwegen
Pixabay/Trond Giaever Myhre
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Protestantismus

Warum auf Pilgern einst die Todesstrafe stand

Lange Zeit galt Pilgern unter Protestantinnen und Protestanten als tabu: Reformator Martin Luther bezeichnete es spöttisch als „Narrenwerk“, im protestantischen Norwegen stand auf Pilgern zeitweise sogar die Todesstrafe. Heute gibt es eigene evangelische Pilgerwege, die an Verfolgung, Bibelschmuggler und Luther erinnern.

Aus seiner Ablehnung des Pilgerns machte Luther wahrlich kein Geheimnis: Man wisse ja nicht, sagte er, ob im Pilgerort Santiago de Compostela überhaupt Jakob unter der Erde liege. „Wer weiß, ob dort nicht nur ein toter Hund begraben ist? Oder ein totes Pferd?“ Luthers „deftige“ Kritik am Pilgern müsse man aus der Zeit verstehen, sagt der Theologe und Altbischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, Michael Bünker, zu religion.ORF.at.

Dass die Pilgerrouten, besonders die Jakobswege nach Santiago de Compostela, damals besonders belebt waren, hatte nämlich nicht nur spirituelle, sondern auch politische Gründe. „Das hat Luther abgelehnt.“ Europa, „das damalige christliche Abendland, hat sich in einer starken feindseligen Konfrontation mit dem osmanischen Reich befunden“ und Jakob und das Pilgern seien ein besonderes Signal der „Abwehr der osmanischen Offensive“ gewesen. So ist der heilige Apostel besonders in Spanien auch als Santiago Matamoros (Sankt Jakobus der Maurentöter) bekannt, er galt als Schutzherr der christlichen Heere.

Martin Luther Statue
Public Domain
Der heilige Jakob, ein Hund oder ein Pferd? Man wisse nicht, wer in Santiago de Compostela begraben sei, spottete Martin Luther

Geld nicht zum Fenster rauswerfen

Luther habe aber auch den „Verdienstcharakter des Pilgerns“ kritisiert, „dass man sich dadurch einen Ablass erwirbt“, also einen Akt der Gnade, sagt Bünker. Im Mittelalter florierte der Ablasshandel, Menschen glaubten, sich durch Geldabgaben an die Kirche vom Fegefeuer freikaufen zu können. Luther wandte sich mit seinen 95 Thesen, die am 31. Oktober 1517 veröffentlicht wurden, gegen diese Praxis und dieses Gottesbild.

Gottes Gnade könne man sich nicht durch Leistungen erwerben – „weder durch Geldleistungen noch durch fromme Gebetsleistungen noch durch Eintritt in ein Kloster und auch nicht durch Wallfahrten und Pilgern“, so Bünker. Das drückte er nicht nur durch die „Polemik mit dem toten Hund“ aus, so der Theologe. „Luther setzt fort und sagt: Man soll lieber zu Hause bleiben und ein gutes Leben als Christ, als Christin führen. Man soll das Geld nicht auf diesen Pilgerreisen beim Fenster rauswerfen, sondern damit lieber dem Nächsten, der Not leidet, helfen.“ Luther habe damit schon „einen wunden Punkt getroffen“.

Pilgern unter Todesstrafe

Dass Pilgern unter evangelischen Christinnen und Christen nicht nur verpönt, sondern mancherorts auch streng verboten war, zeigt ein Blick in die Geschichte Norwegens. Dort stand Pilgern ab 1537 sogar unter Todesstrafe. „Man hat das Pilgern in den evangelisch gewordenen Ländern so sehr als etwas Katholisches verstanden, dass man Leute, die als Pilger unterwegs waren, verdächtigt hat, sie würden die neue Staatsreligion ablehnen und damit auch die neue Einheit der Gesellschaft infrage stellen“, sagt Bünker zu religion.ORF.at.

Kathedrale Santiago de Compostela
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Die Kathedrale von Santiago de Compostela in Spanien gilt als Grabeskirche des heiligen Jakob

Gerade in Norwegen befindet sich einer der ältesten Pilgerwege überhaupt, der Olavsweg. Benannt nach König Olav II. Haraldsson (995–1030), der zum Christentum konvertierte und das Land christianisierte, entwickelte sich der Pilgerweg zu seinem Grab zum Pilgermagneten. Jedenfalls bis zur Reformation: Pilgern und Wallfahrten wurden dann unter Strafe gestellt.

Pilger in Norwegen seien so verdächtig gewesen „wie die evangelischen Bibelleser in Österreich“, sagt Bünker. „Man hat damals in allen Ländern die Meinung vertreten, es kann einem Land nur gut gehen, wenn es nur eine Religion gibt“, sagt der Theologe. Die Religion des Herrschers musste demnach auch die Religion des Volkes sein.

Pilgern setzt sich durch

„Erst im späten 20. Jahrhundert“ wandelte sich unter Protestantinnen und Protestanten der Blick auf das Pilgern, wie Bünker erklärt. Es habe einige Zeit gebraucht, bevor das Pilgern nicht mehr in Verdacht stand, „etwas typisch Katholisches zu sein“. Pilgern wurde auch in den evangelischen Kirchen wieder beliebter – im Unterschied zur Wallfahrt, bei der nicht so sehr der Weg, sondern das Ziel, der „heilige Ort“, im Fokus steht. Einen solchen gibt es bei Protestanten nicht.

„Die Wallfahrt im klassischen Sinn kennen wir Evangelische bis heute nicht, aber das Pilgern, der bewusste weite Weg, den man zu Fuß geht, um etwas über sich und das eigene Verhältnis zu Gott, den Mitmenschen, zu der Welt zu erfahren“, sagt Bünker. Wenn man als Christ, als Christin „sein eigenes Leben als einen Pilgerweg versteht“, bedeute das ein Verständnis dafür, dass man „hier nicht daheim“ sei, sondern immer auch fremd, und auch auf der Erde nur „ein Gast“.

Wartburg (Eisenach)  in Deutschland
Pixabay/Andreas N.
Viele Lutherwege führen zur Wartburg

Erinnerung an „tragische Ereignisse“

Mittlerweile gibt es viele evangelische Pilgerwege, etwa den 400 Kilometer langer Lutherweg. Verschiedene Strecken verbinden Orte miteinander, die im Leben von Luther eine wichtige Rolle gespielt haben. Die meisten Wege führen zur Wartburg, wo Luther die Übersetzung der Bibel ins Deutsche begann.

Mehrere evangelische Pilgerwege weisen auf „tragische Ereignisse“ hin, sagt Bünker. So erzählt der Waldenserweg, „der von den Alpen im Piemont nach Genf führt“, von der blutigen Verfolgung der protestantischen Gemeinschaft und ihrer Vertreibung aus Frankreich durch „katholische Landesherren“. Viele Waldenser flohen nach Genf. Auch die Hugenottenwege erinnern an die verfolgten Protestantinnen und Protestanten in Frankreich.

Bibelschmugglern auf der Spur

„Ein bisschen gehört in diese Tradition auch der Weg des Buches hinein“, sagt Bünker. Der Weitwanderweg erinnert an die Zeit des Geheimprotestantismus in Österreich zwischen 1600 und 1781. Auf Wanderwegen und ehemaligen Bibelschmugglerrouten führt der 500 Kilometer lange Weg von Deutschland durch Österreich nach Italien.

Wer den Weitwanderweg wirklich als Pilgerweg gestalten und erfahren will, bekommt konkrete Empfehlungen. „Es wäre doch gut, wenn man als den Wanderführer für diesen Pilgerweg die Bibel dabeihätte“, sagt Bünker. Ein konkreter Bibelabschnitt für jeden Tag, der zur Gegend passt, in der man sich bewegt, wird von den Initiatoren des Weges, der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, vorgeschlagen. Der Geschichte des Geheimprotestantismus auf diesem Wege zu begegnen sei für viele Evangelische ein „eindrückliches“ Erlebnis. Schließlich spiele sie in evangelischen Gemeinden „bis heute eine große Rolle“, sagt Bünker.

Zwei Pilger auf einem Pilgerweg
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Pilgern ist mittlerweile auch bei vielen evangelischen Christinnen und Christen beliebt

Pilgern in Norwegen wieder erlaubt

Mittlerweile gibt es in Österreich auch ökumenische Pilgerwege, die die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam gestalten. Das gemeinsame Unterwegssein „ist etwas Neues, das uns verbindet“, sagt der frühere Bischof.

Gemeinsam und vor allem legal unterwegs sind Pilgernde selbstverständlich auch längst wieder in Norwegen. Anfang des 20. Jahrhunderts schaffte Norwegen die Todesstrafe ab, 1953 wurde das Pilgerverbot aufgehoben. Bis der Olavsweg wieder eröffnet wurde, dauerte es schließlich bis 1997. Auch wenn er sich jedenfalls zahlenmäßig nicht mit den jährlich rund 300.000 Besucherinnen und Besuchern auf dem Jakobsweg messen kann, ist der Olavsweg mit seinen rund 2.000 Pilgern und Wandernden im Jahr heute der wichtigste Pilgerweg Skandinaviens.