Weltweit bekennen sich heute sechzig bis siebzig Millionen Menschen zum Taoismus, etwa 30.000 sind als Mönche und Nonnen ordiniert. Am stärksten verbreitet ist der Taoismus in Festlandchina und Taiwan, aber auch in Europa und den USA hat er längst Fuß gefasst. Er ist eng mit der traditionellen chinesischen Philosophie verbunden. Zentrale Figur des Taoismus ist Laotse (auch Lao-Tse, Laudse oder Lao-tzu), der im sechsten Jahrhundert vor der Zeitrechnung gelebt haben soll.
Überlieferungen erzählen, dass Laotse ein bedeutender Gelehrter und Archivar in der damaligen Hauptstadt der Zhou-Dynastie Luoyang war. Schon zu Lebzeiten soll er zahlreiche Schüler um sich gesammelt haben. Es wird erzählt, dass er zunehmend von der Welt enttäuscht gewesen sei und sich so von dieser zurückzog. Irgendwann sei er an einem Pass Richtung Westen verschwunden. Zuvor habe er sein Wissen aufgeschrieben: im Taodejing (Daodejing).
Tao – und der Sinn des „Nichthandelns“
Im Zentrum des Taodejing steht das Tao (Dao): Es ist ein undefinierbarer Prozess, der Urgrund, der alles Lebendige, Spirituelle, aber auch Materielle umfasst. Hisaki Hashi, Philosophin an der Universität Wien, zufolge versucht der Taoismus mit dem Tao eine Antwort auf die Frage zu geben, wie man in einer chaotischen Welt ein ruhiges Leben führen kann.
Empfohlen wird, sich im „Wu Wei“ zu üben, im Nicht-Handeln. Wie Hashi anmerkt, klingt das zunächst paradox: „Denn natürlich handelt jeder Mensch – selbst, wenn er nichts tut.“ Worum es dem Taoismus geht, sei die kritische Reflexion: „Der Taoismus ist von Beginn an kritisch philosophisch. Der Gedanke des Wu Wei fordert uns auf uns zu fragen, wie unser Leben am heutigen Tag ist. Wie ist das Verhältnis von uns zur Natur? Wie ist das Verhältnis von mir zu meinem und meiner Nächsten?“ Ein Orientierungspunkt hierfür sei das Yin und Yang.
Yin und Yang
Yin und Yang sind Prinzipien, die schon die alte chinesische Philosophie kennt. Sie beschreiben einander entgegengesetzte Elemente, die zugleich aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig ergänzen. Es gehe nicht nur um die richtige Balance, sagt Hashi. Es zeige auch, dass die Welt nicht aus einfachen Gegensätzen besteht: „In der dualistischen Denkweise neigt man dazu zu glauben, dass Gewinnen immer gut ist und Verlieren immer ganz schlecht. Aber der Taoismus weist darüber hinaus: Wenn es ein Gewinnen gibt, gibt es natürlich auch einen Verlust. Und beides gehört zum Leben. Beides gehört zu unserer Natur.“
Laotse – eine Kunstfigur?
Dass Laotse das Taodejing wirklich selbst verfasst hat, wird heute in der Wissenschaft zunehmend angezweifelt. Vertreten wird vielmehr die These, dass das Taodejing eine Zusammenstellung von Schriften verschiedener Autoren sei. Wie Franz Winter, Religionswissenschaftler an der Universität Graz, erklärt, wird zudem angenommen, dass es Laotse historisch möglicherweise gar nicht gegeben hat. Vielmehr soll er eine Figur gewesen sein, die zur ironischen Kritik des Konfuzianismus diente. Für diese These spricht, dass zentrale Elemente der Biografie Laotses an der Biografie des Konfuzius orientiert sind, diesen jedoch stets übertreffen.
Götter-, Ahnen- und Heiligenverehrung
Wie Winter erklärt, entsteht im zweiten Jahrhundert vor der Zeitrechnung auch ein religiöser Taoismus mit Ahnen-, Götter- und Heiligenverehrung: „Der religiöse Taoismus hat ein komplexes System von Hierarchien von unterschiedlichen Göttern entwickelt. Zu ihnen zählt unter anderem der vergöttlichte Laotse.“ Neben diesem kennt der religiöse Taoismus auch Göttinnen, wie etwa die Königinmutter des Westens Sivan Mu. Sie gilt als eine Bringerin von verschiedenen positiven Elementen in der taoistischen Tradition.
Begründer des religiösen Taoismus sei Chang Tao-ling, Gründer der „Schule der Himmelsmeister“ – eine religiöse taoistische Organisation, die bis heute in Taiwan und China existiert.
Verfolgung und Revival
Dass die „Schule der Himmelsmeister“ bis heute existiert, ist Winter zufolge nicht selbstverständlich. Fielen doch zahlreiche der zum Teil monastisch verfassten Organisationen der sogenannten Kulturrevolution unter Mao Tse-Tung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Opfer: Taoistische Tempel in China wurden in dieser Zeit zerstört, taoistische Bücher verbrannt und Menschen misshandelt. Erst nach dem Tod Maos wurden die Beschränkungen schrittweise wieder aufgehoben und der Wiederaufbau taoistischer Tempel zum Teil aktiv vorangetrieben.
In China lässt sich heute eine gewisse Renaissance des Taoismus erkennen, erklärt Winter: „In diesem Umfeld ist auch das Revival ganzer Klosterregionen zu sehen, deren Wurzeln jedoch zum Teil schon ins 7. Jahrhundert zurückreichen.“ Eines der berühmtesten Zentren des Taoismus ist das Wudang-Gebirge, das in der Bergregion im Nordwesten der chinesischen Provinz Hubei liegt. Mit seinen zahlreichen Tempeln, Palästen, Klöstern und Einsiedeleien zieht das Wudang-Gebirge mittlerweile jährlich zahlreiche Touristen aus aller Welt an. Besonders interessant für viele ist, dass sie hier taoistische Priester, Mönche und Meister antreffen können und damit einen vermeintlich authentischen Taoismus.
Taoismus in der Medizin
Winter stellt fest, dass der Taoismus heute für viele Menschen eine Lehre ist, die Techniken und Inhalte präsentiert, die sie auch tagtäglich anwenden können:
„Sehr stark ist dabei auch die Idee, dass man Körperlichkeit und auch Geistigkeit verbindet und dann eben auch positiv beeinflussen kann.“ Im Zentrum stehe dabei die Idee der Qi (Chi) Energie – einer Art Urenergie: „Man geht im Taoismus davon aus, dass Störungen der Harmonie der Qi-Energie zu Krankheiten führen können.“ Abhilfe sollen diätetische Vorschriften, Körpertechniken, wie etwa Tai-Chi und Qi-Gong, und Rituale verschaffen.
Diese Vorstellung der Energieströme findet sich auch in der TCM. Auch sie ist wesentlich vom Taoismus beeinflusst, sagt Yan Ma, Professorin für Pathophysiologie und Allergieforschung. Seit zwölf Jahren leitet sie an der Medizinischen Universität Wien den Masterlehrgang „Traditionelle Chinesische Medizin“: „Elemente wie Tai-Chi und Qi-Gong spielen eine große Rolle in der TCM und sollen dazu beitragen mehr Energie, Beweglichkeit, aber auch innere Ruhe finden zu können.“
Nichthandeln gegen den Klimawandel
Der Taoismus könne auch Antworten auf gesellschaftspolitische Fragen geben, sagt Hashi. Das zeigt sich etwa am Umgang mit dem Klimawandel. Der Taoismus könne hier gerade mit seinen Lehren über das Verhältnis von Mensch und Natur wichtige Impulse liefern. Denn der Taoismus habe das menschliche Potenzial, zu zerstören, schon früh erkannt. Auch deshalb betone er das Wu Wei – das Nicht-Handeln, sagt Hashi: „Der Taoismus lehrt Gelassenheit, ein Sich-loslösen von ideologieartigen Ideen. Es soll vermieden werden, egoistisch zu handeln.“