Liebe

Augustinus und die Last mit der Lust

Nicht jede Liebe ist ohne Makel, davon war der Kirchenlehrer Augustinus überzeugt. Er verurteilte die körperliche Liebe und beschrieb die Begierde als Folge der Erbsünde. Seine These wirft lange Schatten. Die Augustinus-Forschung zeichnet ihn dennoch als Vordenker seiner Zeit.

Augustinus wurde 354 n. Chr. im heutigen Algerien geboren. Nach wie vor zählt er zu den einflussreichsten Theologen der christlichen Spätantike. Sein Denken prägt die christliche Lehre bis heute. Vor allem die von ihm verfasste erste Autobiografie der Weltliteratur, die „Confessiones“ („Bekenntnisse“), entfaltete großen Einfluss. Augustinus reflektiert darin über die Liebe und berichtete unbefangen auch von sexuellen Vorgängen. Erfahrungen hatte Augustinus reichlich.

Von seiner Lebensgefährtin, mit der er ein Kind hatte, musste er sich trennen. Er sollte eine arrangierte Ehe eingehen, um seine Karriere voranzutreiben. Doch die hierfür ausgesuchte Frau war noch nicht im heiratsfähigen Alter. In den „Confessiones“ schreibt Augustinus, dass er sich die „Wartezeit“ auf die Hochzeit mit einer anderen Frau verkürzt hatte. Nachträglich verurteilte er seine Suche nach Befriedigung körperlicher Begierde. Die arrangierte Ehe sollte nicht zustande kommen. Augustinus entschied sich für ein Leben in Enthaltsamkeit. Der Weg dorthin sei ein schwieriger gewesen, so Augustinus.

Ödipaler Komplex?

Augustinus und seine Mutter verband eine besonders innige Beziehung. Augustinus stilisierte sie zur idealen Frau. Psychoanalytiker wie etwa Charles Kligerman deuteten die „Confessiones“ als Hinweis auf einen ödipalen Komplex. Augustinus psychosexuelle Entwicklung sei wegen der zu engen Beziehung zur Mutter gestört gewesen.

Gemälde „Saints Augustine and Monica“ von Ary Scheffer
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In Augustinus’ Beschreibung seiner Mutter, Monnica, zeigen sich augenfällige Ähnlichkeiten zu Maria, so Seelbach. Ary Scheffer verewigte sie mit dem Ölgemälde „Saint Augustine and Saint Monica“ 1854.

Auch deshalb habe er die Liebe überhöht, die sexuelle Begierde aber verurteilt. Augustinus beschrieb sie als Strafe Gottes für den Sündenfall Adams und urteilte, dass sie deshalb nicht beherrschbar sei. Seine Thesen sorgen bis heute für Diskussionen und den Vorwurf, Augustinus hätte die Leib- und Frauenfeindlichkeit seiner Umwelt theologisch untermauert.

Inszenierung der eigenen Biografie

Larissa Seelbach, Professorin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, kritisiert, dass Augustinus’ Schriften in solchen Thesen häufig nur nach heutigen Maßstäben gelesen und beurteilt würden. Es brauche aber auch eine historische Einordnung seiner Schriften.

Augustinus führe in seinen Bekenntnissen keinen Seelenexhibitionismus vor: „Der rhetorisch geschulte Bischof wusste sehr genau, was er schrieb und zu welchem Zweck“. Seine „Confessiones“ seien weniger eine Autobiografie im heutigen Verständnis, sondern eine Werbeschrift für das Christentum, die biografische Details bewusst einsetzt.

Platons Einfluss

Bevor Augustinus zum Christentum konvertierte gehörte er dem Manichäismus an, einer Religionsströmung, die stark von einer dualistischen Weltsicht und der Gegenüberstellung von Gut und Böse, Geist und Körper geprägt war. Deutlich sei auch der starke Einfluss der griechischen Philosophie, vor allem der Lehren Platons, sagt Seelbach. Augustinus war wie er überzeugt, dass der Mensch sich nicht von Leidenschaften überwältigen lassen dürfe. Mit Hilfe seiner Vernunft müsse der Mensch über seine Leidenschaften herrschen. Auch in Fragen der Liebe.

Saint Augustine von Philippe de Champagne (Öl auf Leinwand, etwa 1645 bis 1650)
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Das brennende Herz wurde zum Kennzeichen von Augustinus. Hier in der Darstellung „Saint Augustin“ von Philippe de Champagne Mitte des 17. Jahrhunderts.

Bedrohung „sexuelle Begierde“

Aus der griechischen Philosophie stammt auch Augustinus’ Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Formen von Liebe. Sie reichen von sexueller Begierde (eros) über Freundschaft (philia) bis zur göttlichen Liebe (agape). Ins Zentrum rückte für ihn die „Agape“ als Gottes- und Nächstenliebe. Sie sei das höchste Ziel des Menschen und der Welt, nach dem sich alles richten sollte. „In der Sexualität sah er eine Kraft, die deshalb bedrohlich war, weil sie den menschlichen Willen von Gott abzulenken vermochte“, so Seelbach.

Außerdem glaubte er, die Erbsünde würde auf dem Weg der fleischlichen Zeugung an die Nachkommen weitergegeben. Nur in der Ehe sei die Begierde zu dulden und auch nur dann, wenn sie dazu diene, Kinder zu zeugen. Augustinus’ Überlegungen standen im Kontext der damaligen Diskussion um Ehe und Fortpflanzung: Kirchenlehrer wie Johannes Chrysostoms waren davon überzeugt, dass sie Folge des Sündenfalls und damit negativ seien. Augustinus widersprach. Die Ehe und das Zeugen von Nachkommen seien gut. Auch im Paradies hätten Menschen Kinder gezeugt, jedoch ohne sexuelle Erregung.

Vorwurf Mord

Seine Lehre hatte weitreichende Folgen für das Christentum und dessen Sexualmoral. Denn sie verbreitete sich schnell und wurde immer wieder verschärft. So urteilte etwa im 12. Jahrhundert der Bischof von Ferrara, Huguccio, dass der Geschlechtsverkehr in der Ehe eine Todsünde sei, wenn er der Befriedigung der Geschlechtslust diene. Zu einer weiteren Engführung kam es im 16. Jahrhundert.

Todsünde Wollust Holzstiche von Hieronymus Cock (1510–1570) nach Pieter Brueghel
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Wolllust, als aktives Handeln zur Steigerung der sexuellen Befriedigung, zählt im Katechismus der römisch-katholischen Kirche zu den sogenannten sieben Todsünden. Hier als Holzstich „Todsünde Wollust“ von Hieronymus Cock.

Die weibliche Eizelle war in der Medizin noch unbekannt. Die Theologie folgte daher der damals gängigen These, der Mensch entstünde einzig aus der männlichen Samenzelle. Als Folge wurde seine „absichtliche Vergeudung“ von kirchlicher Seite doppelt verurteilt. Sie sei ein Verstoß gegen die rechte Ordnung der ehelichen Liebe. Und schlimmer noch: ein Verstoß gegen das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“.

Langer Schatten der Lustfeindlichkeit

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 60ern des 20. Jahrhunderts änderte sich die Position der Kirche zur Sexualität. Neben der Fortpflanzung wurden auch andere Werte für die Ehe hervorgehoben, wie etwa das „Gattenwohl“. Der einzig legitime Platz der sexuellen Begierde blieb aber weiterhin die Ehe zwischen Mann und Frau.

Die kirchliche Sexualmoral wird zunehmend kritisch gesehen. Reformen werden längst nicht mehr nur von außen gefordert, sondern auch innerkirchlich, wie etwa von der Initiative Maria 2.0, aber auch von Forschungskreisen, wie etwa jenem der Theologischen Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Graz.

Sündenbock Augustinus

Am Dilemma der katholischen Sexualmoral sei aber nicht nur die Lehre Augustinus’ Schuld, sagt Seelbach: „Augustinus hat enorm viele Werke verfasst. Es gibt sehr bekannte Schriften, die entsprechend häufig gelesen und diskutiert wurden und werden. Das bringt es mit sich, dass andere, weniger bekannte Quellen vernachlässigt werden.“ Dies treffe etwa auf Augustinus’ Briefe an Frauen oder seine Predigten zu. In diesen zeige sich, dass Augustinus intellektuell keinen geschlechtsspezifischen Unterschied zwischen Männern und Frauen machte, so Seelbach. In seiner Zeit alles andere als selbstverständlich.

Augustinus sei ein Kind seiner Zeit gewesen. Er kannte weder die weibliche Eizelle, noch die weibliche Lust. In anderen Fragen hätte er für seine Zeit aber durchaus fortschrittliche Ideen vertreten: „Entgegen dem einseitigen Brauch, Ehebrecherinnen hart zu bestrafen, forderte Augustinus, dass Männer Frauen gegenüber ebenfalls zur Treue verpflichtet seien. Was die ehelichen Rechte und Pflichten von Mann und Frau betraf, waren sie für Augustinus gleichgestellt“, sagt Seelbach. Derartige Erkenntnisse könnten Anlass für neue Diskussionen über Augustinus und seine Rezeptionsgeschichte geben.