Frauen sitzen in Kirchenbänken
APA/dpa/Matthias Balk
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Deutschland

Missbrauchsgutachten: Druck auf Politik

Nach der Veröffentlichung des neuen Gutachtens zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising haben Politiker, Vertreter von Missbrauchsopfern und katholische Laien die Politik aufgefordert, die Aufklärung des Missbrauchs zu übernehmen.

Der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sagte im Südwestrundfunk, um die Vergangenheit in der katholischen Kirche aufzuarbeiten, sei nun ein Blick von außen nötig. Das könne jedoch nur in einer unabhängigen Aufarbeitung geschehen, die von staatlicher Seite garantiert, unterstützt und begleitet werde.

Auch die Vertretung der katholischen Laien, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), forderte mehr politische Einflussnahme auf die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Kirche. ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp sagte im RBB, sie glaube „nicht mehr, dass die Kirche allein die Aufarbeitung schafft“.

Aufarbeitung alleine nicht zu schaffen

Sie glaube nicht mehr daran, dass die Kirche die Aufarbeitung allein schaffe. Zu zögerlich seien viele Diözesen daran gegangen, unabhängige Kommissionen zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals einzusetzen. Es gehe nur schleppend voran. Das Münchner Gutachten belege zudem, dass unabhängige Ombudsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt eingerichtet werden müssten und auch die Gemeinden, in denen Täter gearbeitet und gelebt hätten, in die Aufarbeitung einbezogen gehörten.

Es müsse die Frage gestellt werden, „ob es nicht ein besserer Weg wäre, wenn wir auf der politischen Seite im Sinne der Unabhängigkeit der Aufarbeitung mehr Einflussnahme hätten – beispielsweise über einen Ausschuss im Parlament, über eine Kommission, über eine Wahrheitskommission.“

„Wann folgen endlich Konsequenzen?“

Stetter-Karp zeigte sich dabei enttäuscht über das Verhalten der kirchlichen Verantwortlichen. „Es ist offensichtlich, dass auch im Jahr 2022 die bittere Realität heißt: Das System von Vertuschung, Vergessen und schneller Vergebung gegenüber den Tätern ist nicht aufgebrochen worden.“ Sie bezeichnete es als „erschreckend“, dass der emeritierte Papst Benedikt XVI. selbst im vergangenen Dezember offenbar noch kein Fehlverhalten eingeräumt habe.

„Wann folgen endlich Konsequenzen, die der dramatischen Lage gerecht werden?“, fragte Stetter-Karp in einer Erklärung vom Donnerstag. Das Ausbleiben „überzeugender Strukturreformen“ zeige, dass rechtswidrige Verhaltensweisen in der deutschen Kirche „bis in die Gegenwart“ reichten. Die römisch-katholische Kirche habe gegenüber den Betroffenen von sexueller Gewalt „doppelt versagt“. Denn sie habe ihren Auftrag, die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen, nicht erfüllt. Zudem habe sie noch selbst Räume für Missbrauch eröffnet.

Benedikt bestritt Verantwortung

Das neue Gutachten erhebt schwere Vorwürfe gegen den emeritierten Papst. Benedikt hat demnach als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung „strikt“. Benedikt bekundete über seinen Sprecher Georg Gänswein nach der Veröffentlichung des Gutachtens „Schock und Scham über den Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker“.

Reisinger: Ende des „Mythos“ vom Chefaufklärer

Die Autorin und Ratziger-Kritikerin Doris Reisinger hofft nach der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens auf eine andere Betrachtung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. „Der Hammer dieses Gutachtens ist: Wir wissen jetzt, dass Ratzinger bereit ist, öffentlich zu lügen, um sich seiner Verantwortung zu entledigen“, sagte Reisinger dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Freitagausgabe). „Wie dreist oder wie verzweifelt muss man sein, um so etwas zu tun?“

Theologin und Autorin Doris Reisinger (Wagner)
Andrea Schombara
Doris Reisinger hofft auf das Ende des „Mythos“ vom Chefaufklärer

Reisinger hat gemeinsam mit dem Filmemacher Christoph Röhl das Buch „Nur die Wahrheit rettet“ über die Rolle von Ratzinger im Missbrauchsskandal der römisch-katholischen Kirche verfasst. Sie hoffe nun nach Benedikts Einlassungen in dem Gutachten auf ein Ende des „Mythos“ vom Chefaufklärer. Dieser Ruf Ratzingers sei in weiten Kreisen bis heute ungebrochen.

„Samthandschuhe fallen lassen“

Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden; es wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Ratzinger konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Ratzinger streitet jedes Fehlverhalten ab.

Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern sprechen die Gutachter, gehen aber von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus. Reisinger forderte in der Zeitung juristische und politische Konsequenzen: „Werden Politik und Justiz die Samthandschuhe fallen lassen, mit denen sie die Kirche allzu lange angefasst haben?“, sagte sie. „Die Zeit der Gutachten ist vorbei.“

Kirchenrechtler: Papst Benedikt „hat eindeutig gelogen“

Aussagen des emeritierten Papstes Benedikt XVI. zu seiner Rolle im Umgang mit einem nach Bayern versetzten Missbrauchstäter sind aus Sicht des renommierten Kirchenrechtlers Thomas Schüller eine klare Lüge. „Er hat eindeutig gelogen“, sagte Schüller am Donnerstagabend im ARD-„Brennpunkt“.

Benedikt hatte immer wieder betont, an einer Sitzung im Jahr 1980 nicht teilgenommen zu haben, in der beschlossen wurde, dass ein Priester, der im Bistum Essen Jungen missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Benedikt, der frühere Kardinal Joseph Ratzinger, war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising.

Opfer ein zweites Mal brüskiert

Die Kanzlei, die das Gutachten erstellte, hatte Ratzingers Angaben zu dem Fall stark angezweifelt und die Kopie eines Protokolls vorlegt, wonach Ratzinger – anders als von ihm behauptet – durchaus an der Sitzung teilgenommen hatte.

Seine Teilnahme daran sei belegt, „weil das Protokoll Dinge referiert, die nur er wissen kann aus einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II.“, betonte Schüller. Dass es bei diesem Gespräch ausgerechnet um die Entziehung der Lehrerlaubnis für Ratzingers langjährigen liberalen Widersacher, den Theologen Hans Küng, ging, nannte Schüller einen „Treppenwitz der Geschichte“.

„Er möchte heute nicht die Wahrheit sehen, sondern er leugnet sie und versucht, alle Verantwortung von sich zu schieben und dadurch brüskiert er die Opfer ein zweites Mal“, kritisierte Schüller den emeritierten Papst.