Thora Blick von hinten
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Rezension

„Ultraorthodox“: Flucht vor Denkverboten

In seinem jüngst veröffentlichten Werk, „Ultraorthodox – Mein Weg“ erzählt Akiva Weingarten, wie er in der Satmarer-Gemeinschaft ultraorthodoxer Juden aufwuchs. Kritisch blickt er darin auf Regeln und Gesetze, die zunehmend zum Zwang für ihn wurden.

Nach langem Zweifeln schaffte er einen Ausstieg – ohne alle Brücken hinter sich abzubrechen. Weingartens autobiografischer Roman erzählt von zentralen Glaubensvorstellungen ultraorthodoxer Juden und Jüdinnen. Der Leser und die Leserin lernen jüdische Riten und Feste kennen, aber auch Unterschiede innerhalb der jüdischen Community.

Tiefe Einblicke gibt „Ultraorthodox“ damit nicht nur in sein eigenes Leben, sondern auch in die Satmarer-Gemeinschaft, die sich gegenüber der „Welt der Goyim“ (Nicht-Juden) abschotte, weil sie sie als feindlich empfinde. Weingarten spickt sein Werk mit jüdischen Geschichten, Witzen und Zitaten aus heiligen Schriften wie der Thora, um ein Gefühl für jüdisches Denken zu vermitteln.

Cover: Ultraorthodox von Akiva Weingarten
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Buchhinweis

Akiva Weingarten: Ultraorthodox – Mein Weg. Gütersloher Verlagshaus, 255 Seiten, 20,60 Euro.

„Nicht nur schwarz und weiß“

„Ultraorthodox“ besticht durch eine klare Sprache. Was Weingarten erlebt hat, war „mentale Vergewaltigung“, so Weingarten bereits im Vorwort. Sein Anliegen, trotz dieser Erfahrungen auch jene verstehen zu wollen, die in der ultraorthodoxen Gemeinschaft leben und leben wollen, prägt das Buch von Beginn an.

Dem Leser und der Leserin eröffnet sich ein vielschichtiges Bild der Satmarer-Gemeinschaft, das von einem Schwarz-Weiß-Denken absieht. Die Kritik an problematischen Erlebnissen bleibt dabei stellenweise zahnlos. Weingarten problematisiert so etwa die Züchtigung als gängige Erziehungsmethode innerhalb der Satmarer-Gemeinschaft. Mit Blick auf seine eigene Familie relativiert er das Problem aber mit dem Verweis, dass sie es stets gut mit ihm gemeint hätten.

Die Rolle der Einzelnen in rigiden Systemen

Warum er das tut, mag sich aus den Anekdoten über Weingartens Eltern erklären. Spannend sind diese, weil sie deutlich machen, welche Rolle der und die Einzelne selbst in rigiden Gemeinschaften spielen kann. Mit wenigen Worten, aber eindringlich beschreibt er Übergriffe und Machtmissbrauch in der Gemeinschaft.

Die Ursachen seien, so Weingarten, strukturelle Probleme, die diese fördern und häufig zu einer Täter-Opfer-Umkehr führen würden. Dass Weingartens Eltern seiner Autonomie mehr Platz einräumten und ihn dadurch auch beschützt hätten, erzählt Weingarten an mehreren Stellen. Dies sei in vielen Familien der Satmarer-Gemeinschaft nicht die Norm, so Weingarten. Ebenso außergewöhnlich sei ihre Reaktion auf seinen Austritt gewesen: „Aber bei aller Not – eines geschah nie: Meine Eltern ließen mich nicht im Stich.“

Strikte Trennung von Männern und Frauen

Eines der zentralen Themen ist die strikte Trennung von Männern und Frauen. Während der bereits 2012 von Deborah Feldman veröffentlichte autobiografischen Roman „Unorthodox“ die zum Teil dramatische Lage von Frauen in der Gemeinschaft beschreibt, öffnet „Ultraorthodox“ den Blick nun für die Konsequenzen der strikten Rollenverständnisse für Männer. Nicht nur in diesem Punkt ergänzen sich die beiden Bücher.

Members of the Satmar Hasidic community gather at a New York State Armory building December 17, 2011 in Brooklyn New York. An estimated 25, 000 men and boys gathered to celebrate the 67th anniversary of the rescue of their founder, Rabbi Joel Teitelbaum, from the Nazis. AFP PHOTO/DON EMMERT (Photo by DON EMMERT / AFP)
APA/ AFP/ Don Emmert
Die strikte Trennung von Männern und Frauen ist in der Satmarer-Gemeinschaft allgegenwärtig

Wie Zeit Online berichtete, habe Weingarten Feldmans Buch nicht gelesen, aber für die Serienadaption von „Unorthodox“ beim Nachsynchronisieren von jiddischen Dialogen geholfen. Dass die weibliche Perspektive in seinem Buch durchgehend außen vor bleibt, mag sich durch die Geschlechtertrennung innerhalb der Satmarer-Gemeinschaft erklären. Die Gedanken der Frauen, die Weingarten in der Gemeinschaft kennenlernt, beschäftigen ihn. Antworten erhält er kaum, mit der Zeit verstummen auch seine Fragen. Was bleibt, ist eine spürbare Leerstelle.

Neue Heimat in der Ferne

Erst mit der Zeit habe Weingarten angefangen, Regeln und Gesetze der Satmarer-Gemeinschaft zu hinterfragen. „Ultraorthodox“ folgt seinem Leben chronologisch, sodass kritische Fragen im Laufe des autobiografischen Romans zunehmen. Eine neue Heimat habe er dort gefunden, wo Fragen und Unsicherheiten ihren Platz haben durften. Auch davon erzählt sein Buch, in dem er auch kritisch über das jüdische Gottesbild reflektiert.

Satmarer-Gemeinschaft

Die Satmarer-Gemeinschaft ist eine chassidische Gruppierung, die von Rabbi Joel Teitelbaum 1905 begründet und nach ihrem Entstehungsort, der (heute rumänischen) Stadt Satu Mare (Deutsch: Sathmar) benannt wurde. Nach der Schoah im Zweiten Weltkrieg gründete Teitelbaum die Gemeinschaft in New York neu.

„Aussteiger brauchen Unterstützung“

Weingarten spricht von einem „Gebirge der Gesetze“, die das Leben und den Alltag der Gemeinschaft prägen würden. Ein weiteres Merkmal der Satmarer-Gemeinschaft sei die strikte Ablehnung des Zionismus. Nur der von Gott gesandte Messias, so die Begründung, habe das Recht, einen jüdischen Staat zu errichten.

Gerade weil er um die Schwierigkeiten eines Ausstiegs aus geschlossenen Gemeinschaften wisse, habe er in Deutschland die „Besht Yeshiva“ gegründet, so der Autor. Eine Gemeinschaft, die Jüdinnen und Juden, die aus ultraorthodoxen Gemeinschaften ausgestiegen sind, helfen möchte, „in der Welt ‚draußen‘ einen neuen Platz zu finden“. Seine eigene Geschichte habe er auch deshalb erzählt, um ihnen Mut zu machen.