Frauentag

Die Frauenbewegung des Mittelalters

In einer Zeit, als Frauen grundsätzlich von Bildung, Politik und Kunst ausgenommen waren, schafften es einige dennoch zu großem Einfluss: Die „heiligen Frauen des Mittelalters“ diskutierten mit Fürsten und Päpsten und stellten einen Wirtschaftsfaktor dar, mit dem man rechnen musste.

Insbesondere im Hoch- und Spätmittelalter hätten Frauen ihre religiösen Erfahrungen niedergeschrieben, Klöster gegründet und in eigenständigen Frauengemeinschaften gelebt, sagte die Germanistin Lydia Miklautsch, die an der Universität Wien lehrt, im Gespräch mit religion.ORF.at. Man könne für das 12. bis 14. Jahrhundert „von Frauenbewegungen sprechen – gemeint sind hier vor allem die Mystikerinnen und die Beginen, die großen Einfluss hatten“.

Diese „heiligen Frauen“ schrieben ihre Visionen und mystischen Erfahrungen nieder oder diktierten sie ihren Beichtvätern. „Wir haben es hier mit einer Bewegung zu tun, die doch immerhin über drei Jahrhunderte gegangen ist“, so die Expertin für Ältere deutsche Sprache und Literatur.

Autonomie und Liebesmystik

Dass diese Bewegung und die relative Autonomie von Frauen möglich war, sei als „Spezifikum der christlichen Religion im Mittelalter und der Rolle der Frau darin“ zu sehen: „Und da geht gar nichts ohne Maria.“ Die Marienverehrung war im 12. Jahrhundert sehr stark und stand in enger Verbindung zur Liebesmystik, in deren Mittelpunkt ein Text stand: das Hohelied der Liebe (1 Kor 13).

Auch Heiligenlegenden wie jene über Maria Magdalena und viele andere hätten den Boden für diese Bewegungen bereitet. Diese Frauenverehrung sei „Grund und Ursache, warum nicht wenige religiöse Frauen tatsächlich in das kirchliche Geschehen und in die Politik eingegriffen haben – und das ist außergewöhnlich und einzigartig“. Mehrere Faktoren trugen maßgeblich dazu bei: die Schwäche des Papsttums, der Aufstieg der Liebesmystik und der zunehmende Einfluss der Armutsbewegungen.

Frauenklöster: „Ein unglaublicher Hype“

Ab dem 12. Jahrhundert entstanden neue Orden, die sich einem Armutsideal und der Askese widmeten. „Die Demutstopik und dieses Armutsideal befeuerten papstkritische Bewegungen“, so die Expertin. Es gab „sehr viele Frauen, die das als religiösen Weg für sich gesehen haben“, und viele davon drängten in die Klöster: „Die Klöster platzten aus allen Nähten. Es war ein unglaublicher Hype, der da entstanden ist.“ Aus Platzmangel heraus entwickelten sich religiöse Frauenbewegungen außerhalb der Klöster: die Beginen.

Frauen arbeiten in einem Schafpferch, Darstellung 1325–1335
Public Domain/Wikipedia
Die Beginengemeinschaften waren wirtschaftlich sehr erfolgreich, etwa in der Textilherstellung (Frauen arbeiten in einem Schafpferch, Darstellung 1325–1335)

Die Beginen waren eine religiöse Bewegung von eigenständigen Frauengemeinschaften, es gab sie im Wesentlichen vom 13. bis ins 16. Jahrhundert, aber einige Gemeinschaften hielten sich bis heute. Verblüffend ist ihre Zahl: Allein in Köln gab es 169 Beginenhöfe. Sie waren keine Klostergemeinschaften und daher unabhängig von männlicher Schirmherrschaft. „Sie haben ihren Lebensunterhalt zum Teil selbst bestritten, zum Beispiel mit Krankenpflege“, sehr wichtig waren die Beginen auch für die Stoffproduktion: Sie betrieben Webereien und Stickereien und unterrichteten auch.

Ekstatische Visionen

Bei allem weltlichen Erfolg blieben die Beginengemeinschaften durch religiöse Askese geprägt, sie hatten einen „sehr emotionalen Zugang zur Religion über die Liebesthematik bis hin zu ekstatischen, entgrenzenden Visionen“, so Miklautsch. „Das ist ein Phänomen, das schwer zu begreifen ist, das sind ganz spezielle Texte – in Sprache gefasste Grenzerfahrungen einer ‚unio mystica‘, der gefühlten Vereinigung mit Jesus, mit Gott“.

Grundlage dieser Visionen war Askese bis hin zu Kasteiungen, „die wir heute als schwer pathologisch bezeichnen würden“: Selbstgeißelungen, extremes Fasten, Schlafentzug. Die Beginen und andere Mystikerinnen waren für die Bevölkerung äußerst faszinierend: Menschen pilgerten zu den „heiligen Frauen“ und wollten Kontakt zu ihnen aufnehmen.

Gemälde „Hildegard von Bingen und ihre Nonnen“, 13. Jahrhundert, Künstlerin unbekannt
Public Domain/Wikipedia
Die heilige Hildegard und ihre Nonnen, Gemälde aus dem 13. Jahrhundert, Künstlerin unbekannt

Eine der berühmtesten Mystikerinnen war Hildegard von Bingen (1098–1179): Hildegard war Äbtissin, Komponistin, Gründerin zweier Klöster und Schriftstellerin, sie unterhielt Briefwechsel mit Päpsten und Herrschern und organisierte dazu noch Predigtreisen. „Hildegard war eine derart wichtige, dominante Person, dass auch die Papst-Kirche, der sie teilweise sehr kritisch gegenüberstand, dem gar nicht viel entgegensetzen konnte.“

„Role model“ Hildegard

Hildegard bezeichnete sich als Prophetin und war auch „ein role model für religiöse Frauen“, sagte Miklautsch. Entscheidend war ihre „sehr bejahende Religiosität, die auch eine Art von Selbstermächtigung war“. Obwohl in ihrer Jugend selbst eine Zeitlang Klausnerin, habe Hildegard später gepredigt, „den Körper gesund zu halten für den Glauben“, sie forderte, dass ihre Nonnen genügend Schlaf und Essen bekamen, „und auch Freude: Sie hat Feste veranstaltet zu den Feiertagen, die Frauen sollten weiße Kleider statt des starren Habits tragen und tanzen, sich schmücken zu Ehren von Maria.“

Ein Phänomen wie Hildegard sei „nur im Klosterumfeld möglich gewesen, sie hatte eine Bibliothek zur Verfügung“, vor allem aber Zeit und Ruhe. Das Gros der Frauen führte ein ganz anderes Leben, sie konnten nicht schreiben und lesen, wurden sehr jung verheiratet und mussten mit vielen gefährlichen Geburten und Gewalt in der Ehe rechnen. Vielleicht lag es daran, dass in manchen Regionen zeitweise „ungefähr ein Drittel der Frauen in Konventen war“, so die Expertin.

Rettung vor Tod durch Geburten

Das Leben dort bedeutete „Rettung vor Mann und Tod durch Kinderkriegen, und auch die Sexualfeindlichkeit der Kirche spielte eine Rolle: Eheliche Pflichten wurden nicht als etwas Positives empfunden“, sagte Miklautsch. Viele der Frauen hatte erste Visionen im Alter von zwölf, 13 Jahren – der Zeitpunkt, zu dem an Heirat zu denken war. „Die Visionen von Jesus eröffneten einen Weg zu Liebeserfüllung, eine Möglichkeit, Erotik zu erleben, die befreit ist von dieser Körperlichkeit. Viele dieser Texte sind hocherotisch“, so die Germanistin.

Lydia Miklautsch, Professorin am Institut für Gemanistik an der Universität Wien
privat
Germanistin Lydia Miklautsch

Eine andere herausragende Persönlichkeit war Birgitta von Schweden (1303–1373), die sich „nicht nur in die Kirchenpolitik, sondern auch ganz elementar in das Tagesgeschehen einmischte. Sie war Hofmeisterin der schwedischen Königin und Beraterin des Königs“, erzählte Miklautsch. Birgitta sagte die Pest voraus, organisierte aber auch ganz handfest Pilgerreisen und trat für Versöhnung in der im 14. Jahrhundert tief gespaltenen Kirche ein. „Birgitta war Politikerin, hatte aber Visionen und Offenbarungen“ – nichts Ungewöhnliches zu ihrer Zeit.

Das Tun der „heiligen Frauen“ war nicht ungefährlich: „Die ganz berühmten waren unantastbar, sie konnten sogar Papst und König angreifen.“ Anders sah es mit weniger bekannten Frauen aus. Im Zuge der Reformation waren der Kirche freie Organisationen zunehmend ein Dorn im Auge, weil sie, anders als die Frauen in den Klöstern, die immer Männern unterstanden, schwer kontrollierbar waren.

Hexenprozesse und Scheiterhaufen

Im 14. und 15. Jahrhundert gab es Hexenprozesse auch gegen Mystikerinnen, einige wurden als Ketzerinnen verbrannt, wie die Begine Marguerite Porete (1250/60–1310). In ihrem Buch „Spiegel der einfachen Seelen“ vertrat sie die Meinung, dass man unabhängig von jeder Autorität den Weg zu Christus finden könne – inakzeptabel für die Amtskirche. Porete widerrief nicht und wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ihr Buch aber wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Versuche, die Beginenhöfe aufzulösen, hatten übrigens nicht nur religiöse Gründe: Die wirtschaftlich so erfolgreichen Frauengemeinschaften waren für die Stände und die Handwerker in den einzelnen Städten zur Bedrohung geworden.

Die heilige Teresa von Avila, Gemälde von Peter Paul Rubens (ca. 1615)
David Monniaux unter CC BY-SA 3.0/https://commons.wikimedia.org/wiki/Peter_Paul_Rubens/1612%E2%80%931615#/media/File:Teresa_of_Avila_dsc01644.jpg
Die heilige Teresa von Avila, Gemälde von Peter Paul Rubens (ca. 1615)

Im Glauben den Männern gleichgestellt

Eine der letzten einflussreichen Visionärinnen war Teresa von Avila (1515–1582). Sie gründete zahlreiche Klöster für Frauen und sogar Männer und führte eine Reform des Karmeliterordens durch. Nebenbei schuf Teresa ein „großartiges literarisches Werk“, so Miklautsch.

Mit Teresa sei es mit den mystischen Frauenbewegungen vorbei gewesen, sagte Miklautsch. Die Kirche fuhr einen restriktiveren Kurs. „Aber die Beginen und die große mystische Bewegung des Mittelalters zeigen, mit welcher Durchsetzungsfähigkeit religiöse Frauen damals leben konnten. Sie sahen sich im Glauben den Männern gleichgestellt, und in Verbindung mit der Marienverehrung hat das Frauen einen Weg eröffnet, eine Gleichwertigkeit im Glauben zu sehen.“