Analyse

Theologen: „Antiwestlicher Affekt“ eint Putin und Kyrill

Russlands Präsident Wladimir Putin und der orthodoxer Moskauer Patriarch Kyrill I. vereint die Ablehnung des Westens und das historische Narrativ zur Bedeutung der Kiewer Rus. Das beschreiben die Wiener Theologen Christian Stoll und Jan-Heiner Tück in einer aktuellen Analyse in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Montagausgabe).

Im unter Präsident Putin etablierten „symbiotischen Verhältnis von Staat und Kirche“ in Russland seien Autokrat und Patriarch heute „im antiwestlichen Affekt vereint“; ihre Allianz fuße zugleich auf einer bestimmten Konstruktion der russischen Geschichte, so die am Institut für systematische Theologie an der Universität Wien tätigen Theologen.

Putin habe Russland wiederholt als Bollwerk gegen westliche Dekadenz ins Spiel gebracht und sich in den vergangenen Jahren immer wieder als „treuer Sohn der Kirche inszeniert“. Enorme staatliche Finanzmittel flossen in die Errichtung von Kirchen und Klöstern und hätten zu einer nach dem Ende der Sowjetunion kaum für möglich gehaltenen Renaissance der Russischen Orthodoxen Kirche beigetragen.

Pussy-Riot „Schlüsselerlebnis“

Für die orthodoxe Kirche wiederum machen die Theologen die Störaktion der Punkband Pussy Riot in der Moskauer Erlöser-Kathedrale 2012 als „Schlüsselerlebnis“ aus. Die Kirche habe daraufhin eine Kampagne gegen vermeintlich religionsfeindliche Kunst geführt und staatliche Gerichte verurteilten die Aktivistinnen zum Teil zu mehrjähriger Lagerhaft.

Patriarch Kyrill I. mit Wladimir Putin
APA/AFP/Alexander Nemenov
Patriarch Kyrill I. und Präsident Wladimir Putin eint laut Theologen ein „antiwestlicher Affekt“

„So überrascht es nicht, dass der Moskauer Patriarch jüngst in einer Predigt sagte, der von Putin entfesselte Krieg solle das christliche Russland vor den Gay-Paraden des Westens schützen“, so Stoll und Tück.

Kirchenhistorisches Narrativ

Die „Allianz“ zwischen russischem Staatschef und russisch-orthodoxem Kirchenoberhaupt fuße im kirchenhistorischen Narrativ, wonach das russische Christentum 988 durch die Taufe des Großfürsten Wladimir aus der Kiewer Rus hervorgegangen ist und Weißrussland, die Ukraine und Russland letztlich als Brudervölker zu einem kanonischen Territorium gehören.

Dies decke sich weithin mit den neoimperialen Interessen Putins, so die beiden Forscher: „Orthodoxes Christentum und politische Ideologie verbinden sich hier zu einer sakralen Geschichte, in der es heilige Helden, mythisch vereinte Völkerschaften und ureigene Rechte auf historische Landstriche gibt.“

„Sakrale Verklärung der Nationalgeschichte“

Im Westen habe man derartige Narrative nach den Katastrophen der beiden Weltkriege für überwunden gehalten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lebten sie in den postsowjetischen Nationalstaaten jedoch wieder auf, erklären Stoll und Tück.

So weise etwa der serbische Nationalismus mit seiner von der serbisch-orthodoxen Kirche gestützten religiösen Mythisierung der Schlacht auf dem Amselfeld ähnliche Züge auf wie die russisch-orthodoxe Inanspruchnahme der Kiewer Rus. Aber auch in nicht orthodoxen Staaten wie Ungarn lasse sich eine „sakrale Verklärung der eigenen Nationalgeschichte“ beobachten.

„Religiös-nationalistische Erzählungen“

Insgesamt sei es eine „zentrale Schwäche religiös-nationalistischer Erzählungen, dass sie Homogenität nicht nur postulieren, sondern kontrafaktisch zu fingieren bereit sind“, so die beiden Theologen.

„Wer Weißrusse, Ukrainer oder Russe ist und was die Einheit dieser Völker bedeutet, steht immer schon fest oder unterliegt der Definitionsmacht politisierender Kleriker und kremlnaher Historiker. Nicht vorgesehen ist, dass Völker, die ihrerseits aus Individuen bestehen, für sich selbst sprechen und erklären, in welchem Staat sie leben und welcher Religion sie angehören wollen.“

Rivalisierende Kirchen rücken zusammen

Die russische „Symphonie zwischen Staat und Kirche“ werde freilich seit Ausbruch des Krieges von lauter werdenden Dissonanzen durchzogen, halten Stoll und Tück fest. Es gebe innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche mutige Stimmen von Bischöfen, Theologen und Gläubigen, welche die offizielle Beschönigung des Krieges nicht mittragen. „Ökumenisch bemerkenswert“ sei zudem, dass die russische Invasion die beiden rivalisierenden orthodoxen Kirchen in der Ukraine zusammenrücken lässt.