Expertin

Hilarion-Absetzung: Kyrill „im Ausnahmezustand“

Nach der überraschenden Abberufung des russisch-orthodoxen Metropoliten Hilarion (Alfejew) als Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats analysiert die deutsche Theologin Regina Elsner die möglichen Gründe. Patriarch Kyrill sieht sie „im Ausnahmezustand“.

Hilarions Versetzung bedeute eine „Degradierung vom Außenminister zum Regionalbischof“, erklärte die Theologin und Mitarbeiterin des Berliner „Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOIS) im Interview des Portals kath.ch. Das russische Kirchenoberhaupt Kyrill „scheint mir gerade im Ausnahmezustand“, sagte die deutsche Theologin: „Er sieht seine Felle davonschwimmen. Die Kirche in der Ukraine wendet sich von ihm ab. Außer Ungarn distanzieren sich die meisten Länder vom Moskauer Patriarchat.“

Die Personalie sei ein Zeichen von mangelndem Vertrauen, so Elsner weiter. In der Debatte über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine dürfte sich der Außenamtsleiter für den Geschmack des Patriarchen zu zurückhaltend verhalten haben: „Hilarion hat sich von Putins Krieg zwar nie distanziert, aber auch nicht die radikale Kriegsrhetorik des Patriarchen übernommen. In Kyrills Augen kann das ein Zeichen von Schwäche oder Illoyalität sein.“

Regina Elsner, Theologin und Mitarbeiterin des Berliner „Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOIS)
ZOIS
Theologin und Mitarbeiterin des Berliner „Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOIS)

Hilarion „kein Kriegstreiber“

Zuletzt hatte ein Landeskonzil der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) für die Lösung vom Moskauer Patriarchat votiert. „Es kann durchaus sein, dass Kyrill den Verlust der ukrainischen Orthodoxie Hilarion anlastet“, so Elsner. Mittlerweile seien die Änderungen des Statuts der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche bekannt, wonach die Verbindung zu Moskau gekappt wurde.

Als „möglich“ bezeichnete es die Expertin aber auch, dass Hilarion nicht mehr im Zentrum der politischen Intrigen stehen wolle. „Er ist ja offensichtlich kein Kriegstreiber. Von daher kann es auch sein, dass er um die Versetzung gebeten hat.“ Der Heilige Synod ernannte Hilarion zum neuen Metropoliten der Diözese (Eparchie) Budapest und Ungarn – mehr dazu in Russisch-orthodoxer Außenamtschef überraschend abberufen.

Ungarn wichtig für Moskauer Patriarchat

Budapest sei für Metropolit Hilarion, der in den 2000er-Jahren russisch-orthodoxer Bischof in Wien und als solcher auch für Ungarn zuständig war, „ein vertrautes Gelände“, so Elsner. Budapest sei auch ein wichtiger Metropolitensitz für das Moskauer Patriarchat. „Ohne Ungarn stünde Kyrill auf der EU-Sanktionsliste. Kyrill und Orban bilden eine wichtige Verbindung an der konservativen Wertefront“, erinnerte die Expertin gegenüber kath.ch.

Patriarch Kyrill
Reuters/Vasily Fedosenko
Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill sieht laut Expertin Regina Elsner „seine Felle davonschwimmen“

In Ungarn würden „christlich-traditionelle Werte zelebriert und Feindbilder wie LGBTQ-Paraden gepflegt“. – Ein antiwestlicher Kurs, so Elsner, den auch Metropolit Hilarion immer gestützt habe, „auch wenn er im Tonfall weniger scharf war als Patriarch Kyrill“.

ORF-Interview: „Welt wird zu Pulverfass“

Erst vor Kurzem hatte Hilarion dem ORF ein Exklusivinterview gegeben. In der „kreuz und quer“-Doku „Ukraine: Kirchenstreit und Bruderkrieg“, die am 24. Mai in ORF2 ausgestrahlt wurde, sagte Hilarion unter anderem zur aktuellen Lage, es gebe jetzt „zwei Informationsräume. Die eine Version der Ereignisse hören wir in Russland, eine völlig andere Version hören die Menschen im Westen.“

Sendungshinweis

„kreuz und quer“-Doku Ukraine: Kirchenstreit und Bruderkrieg zum Nachschauen.

„Ich glaube, die beiden Seiten des Konflikts müssen eine Möglichkeit finden, einander zu hören“, so der abberufene Leiter ihres Außenamtes, der von 2003 bis 2009 Bischof in Österreich war, weiter. „Wenn sie einander nicht hören – und das ist derzeit der Fall -, dann wird sich der Konflikt nicht nur vertiefen, sondern er kann zu einem globalen Konflikt werden. Denn unsere Welt hat sich in ein Pulverfass verwandelt.“

Metropolitan Hilarion
Reuters/Maxim Shemetov
Metropolit Hilarion wurde nach Ungarn versetzt

Nachfolger „ein Zögling Kyrills“

Zum Nachfolger Hilarions als Außenamtschef hatte der Synod, das Leitungsgremium der Russisch-orthodoxen Kirche, am Dienstag den Metropoliten von Korsun und Westeuropa, Antonij (Sevrjuk) (37), ernannt. Er war einst persönlicher Sekretär von Patriarch Kyrill und von Anfang 2018 bis Mitte 2019 auch russisch-orthodoxer Bischof von Österreich.

Mit 37 Jahren sei Antonij „sehr jung“, so Elsner. „Er steht für die postsowjetische Generation. Und er ist ein Zögling Kyrills: Er ist in seine Hierarchie hineingewachsen und hat schnell Karriere gemacht.“ Als Leiter des westeuropäischen Exarchats sei der Metropolit mit den außenpolitischen Strategien Patriarch Kyrills bestens vertraut, erklärte die Theologin. Das von Antonij geleitete Exarchat wurde erst 2018 eingerichtet, so Elsner: „Und zwar auch als strukturelle Antwort auf das Eingreifen des Patriarchats von Konstantinopel in der Ukraine.“