Ranja Ebrahim, Leiterin des Instituts für Islamisch-theologische Studien an der Universität Wien
Joseph Krpelan
Joseph Krpelan
Islam

Gender und Islam: Feminismus trifft Weltreligion

Islam und Genderthemen, das klingt für viele nach konfliktreicher Unvereinbarkeit. Muss es aber gar nicht sein. Wie beides vielmehr in ein fruchtbares Spannungsverhältnis gebracht werden kann, erklärt Ranja Ebrahim, seit einigen Monaten als erste Frau Vorständin des Instituts für Islamisch-Theologische Studien an der Universität Wien.

Religion einerseits und im Selbstverständnis progressive Bewegungen wie der Feminismus scheinen einander ganz grundsätzlich eher auszuschließen. Und gerade der Islam gilt aus säkular-westlicher Perspektive als besonders patriarchal geprägte, frauenfeindliche religiöse Tradition. Beim Detailblick zeigt sich allerdings eine vielschichtige theologische Diskussion.

Die findet etwa auch an der Universität Wien statt. Die islamische Theologin und Religionspädagogin Ebrahim nimmt in Forschung und Lehre auch Genderthemen in den Blick. Und sieht sich dabei gar nicht als Vorreiterin, sondern argumentiert vielmehr, dass ihre Herangehensweise eine Rückkehr zum ursprünglichen Selbstverständnis des Islam ist.

Eine Koranexegetin als Institutsvorständin

Seit einigen Monaten steht Ebrahim dem Institut für Islamisch-Theologische Studien an der Universität Wien vor — als erste Frau in dieser Position. Ist ihre Ernennung also programmatisch zu verstehen? Wohl eher nein, wie die Nachfrage ergibt. Institutsintern sei ihr Geschlecht kein Thema gewesen, erzählt Ebrahim im Gespräch mit religion.ORF.at. Als eine der Dienstältesten am Institut sei sie von den Kolleginnen und Kollegen gewählt worden.

Interessant ist vielmehr Ebrahims Forschungsfeld, die Koranexegese. „Das ist traditionell ein sehr männerlastiger Arbeitsbereich“, sagt die Theologin. Sie bringt daher in Forschung und Lehre die Koranexegese immer wieder auch in ein Spannungsverhältnis zu Genderfragen. Und jetzt wird es doch ein wenig programmatisch. Denn Ebrahim ist der Meinung, dass der Bereich unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient. „Weil hier Fragen behandelt werden, die alltäglich sind und nicht nur Frauen betreffen“, stellt sie klar. All diese Themen beträfen schließlich Männer ganz genauso.

Gender: Über das binäre System hinausdenken

Mit Verweis auf Simone de Beauvoir ist für Ebrahim die „Befreiung der Frau“ gleichbedeutend mit einer Befreiung des Mannes. Denn letztlich seien Genderfragen Beziehungsfragen. Die Wiener Theologin meint im Übrigen ohnehin, dass im 21. Jahrhundert auch in religiösen Kontexten über das binäre Mann-Frau-System hinausgeblickt werden sollte. „Ich sehe das als Chance für die islamische Theologie vor allem an westlichen Universitäten, um das Feld ein bisschen breiter aufzumachen“, sagt Ebrahim.

Ranja Ebrahim, Leiterin des Instituts für Islamisch-theologische Studien an der Universität Wien
privat
Ranja Ebrahim, Vorstand des Instituts für Islamisch-theologische Studien der Universität Wien

Es geht also nicht nur um die Neupositionierung der Frau im islamischen Kontext, sondern auch um neue Genderkategorien jenseits von „männlich“ und „weiblich“. Da gebe es eine Bandbreite, so Ebrahim. Das sei Teil der Lebensrealität der Menschen, „und deshalb muss es auch ein Teil des Diskurses sein“.

Das weite Feld des islamischen Feminismus

Ebrahim befindet sich im Übrigen in guter Gesellschaft. Innerhalb der islamischen Theologie und Islamwissenschaften gibt es eine lebhafte Szene mit streitbaren Protagonistinnen. Nicht alle bezeichnen sich selbst als Feministinnen. Spannende Akteurinnen der gendersensiblen islamischen Hermeneutik sind etwa die amerikanische Islamwissenschaftlerin Amina Wadud und die pakistanische Politik- und Islamwissenschaftlerin Asma Barlas.

Beide konzentrieren sich in ihren Arbeiten auf den Text und argumentieren beispielsweise, dass aus heutiger Sicht misogyne Verse auf einem problematischen Verständnis der oft vieldeutigen arabischen Begriffe beruhen. Der Koran selbst ist für sie keineswegs frauenfeindlich, vielmehr ist seine wahre Bedeutung durch die jahrhundertelange männliche Deutungshoheit quasi verschüttet und bedarf der Neuentdeckung.

Alles eine Sache der Auslegung?

Eine andere Lesart der islamischen Texte stellt diese mit kritischem Blick in den historischen Zusammenhang und entwickelt daraus Regeln für unser heutiges Leben. Ist damit also letztlich alles eine Sache der Auslegung? Zumindest kann die Exegese im Fall des Korans genauso wie bei der Heiligen Schrift des Christentums heutzutage natürlich auch gendersensibel geschehen.

Historisch-kritische Neudeutung also aus weiblicher Perspektive. Das klingt bezogen auf den Koran zunächst vielleicht revolutionär. Doch: „Interpretationen vom koranischen Text sind ja überhaupt nichts Neues“, sagt dazu die Theologin Ebrahim. „Die islamische Theologie baut auf eine Vielzahl von Interpretationstraditionen.“

Tatsächlich gilt im Islam schon Mohammed als allererster Exeget, der Gottes Worte gewissermaßen in verständliche Sprache übersetzen musste. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren wurde ihm einst Gottes Botschaft offenbart. In gesammelter Form wird daraus die Heilige Schrift des Islam, der Koran. Der Prophet hatte jedoch nicht nur den Auftrag, Gottes Botschaft zu verkünden. Er sollte die Offenbarung auch in Wort und Tat erklären. Nach seinem Tod übernahmen Gelehrte diese Aufgabe.

Koranverständnis: Die Tradition ist pluralistisch

Wie komplex die Auslegung des Korans ist, zeigen die unzähligen dicken Kompendien und Kommentare der zumeist männlichen Exegeten. Immer wieder muss über die Jahrhunderte der Text neu untersucht und neu erschlossen werden, um den Gläubigen seine Bedeutung verständlich zu machen. Und da spielt selbstverständlich auch immer der Zeitgeist mit hinein.

„Anhand der unterschiedlichen Rechtsschulen und Strömungen sieht man, dass es eigentlich nie einen einheitlichen Weg gegeben hat, den Text zu verstehen“, erläutert Theologin Ebrahim. Der Koran also sei schon immer Gegenstand von Interpretation gewesen, „es gibt keine absolute Lesart“. Erst im 20. Jahrhundert sei dieser Zugang eines pluralistischen Islam- und Koranverständnisses ins Stocken geraten.

Bezug zur eigenen Lebenswelt

Eine feministische Lesart des Korans ist also letztlich die Rückkehr zu den Wurzeln der islamischen Religion und damit, in Ebrahims Worten, „absolut zulässig“. Als feministische Exegetin will sie sich gleichwohl nicht bezeichnen. „Weil man dann in die Rolle einer Randerscheinung gedrängt wird“, wie sie sagt. Ihre Position ist vielmehr eine andere. Koraninterpretation aus ihrer „lebensweltlichen Situation“ heraus, und da spielt dann selbstverständlich eine Rolle, dass Ebrahim als Frau in Europa geboren und aufgewachsen ist.

Der Koran samt der Hadithe, der überlieferten Aussprüche und Handlungen des Propheten, muss damit also geradezu zwingend historisch-kritisch gedeutet werden. Das sei aber ein Balanceakt, sagt die Theologin Ebrahim. Denn entfernt man sich zu weit vom Text, wird man womöglich in der islamischen theologischen Community nicht mehr ernst genommen. Frauen müssten sich in der Koranexegese darum gleich doppelt anstrengen und zeigen, dass sie sehr wohl auch mit klassischen Tools und Quellen umgehen können.

Perspektivwechsel für den Religionsunterricht

Ihr wissenschaftlicher Zugang trifft sich mit modernen Methoden der Pädagogik, wie sie sich etwa auch im christlichen Religionsunterricht finden. Nicht der jeweilige religiöse Text steht dabei im Vordergrund, vielmehr ist die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler das eigentliche Ziel. Es geht darum, Glaubensinhalte nahbar zu machen und in einen — durchaus nicht friktionslosen — Sinnzusammenhang mit heutigen Lebensrealitäten zu setzen. Ein entscheidender Perspektivwechsel, der hier angestoßen wird.

Beispiel Erbrecht: Update für das Heute

Was aber sind denn nun eigentlich die kontroversen Themen, die Ebrahim einer kritischen Neudeutung unterziehen würde? Ein typisches Beispiel sei das Erbrecht, sagt sie. Gemäß islamischem Recht erben Frauen weniger als Männer. Das sei aber situativ zu verstehen — also vor dem Hintergrund, dass der Koran mit seiner Erbschaftsregelung zur damaligen Zeit eine enorme Verbesserung für die Frauen bedeutet habe. Die waren nämlich in den vorislamischen arabischen Gesellschaften gar nicht erbberechtigt.

Mit anderen Worten: Die koranische Regelung war gemessen an der damaligen Situation geradezu revolutionär. Heute lautet die situative Deutung der entsprechenden Verse folgerichtig, dass der Koran für die Frauen eine Verbesserung zum Ziel hat. Daraus schlussfolgern Theologinnen wie Ebrahim, dass die Aufteilung des Erbes keine Schlechterstellung von Frauen bedingen darf. Gleiches Erbrecht für beide Geschlechter also.

Ein Blick in die Zukunft

Zum Abschluss ein kurzer Blick in die Zukunft. Denn Ebrahim verfolgt viele spannende Ansätze. So greift sie etwa mit ihren Studierenden ein Konzept aus dem Postkolonialismus auf. Dabei geht es um die Dekonstruktion und das Aufbrechen von Machtverhältnissen. Die Vorherrschaft des männlichen Blickwinkels im Islam könnte demzufolge eine Form von „Othering“ bedingt haben: Der männliche Blick konstruiert die weibliche Seite als „das andere“.

Auch rund um die Kopftuchdebatte hat die Theologin bereits publiziert. Dabei hat sie etwa den impliziten Vorwurf auseinandergenommen, der dem Islam unterstellt, die Religion sei per se bildungsfeindlich. Vielmehr zeigt sie auf, welchen hohen Stellenwert Bildung im Koran innehat. Man darf also gespannt sein, was in den nächsten Jahren noch folgen wird.

Für ihr Institut wünscht sich Ebrahim eine möglichst diverse Besetzung der Posten. Vor allem sollten mehr Frauen die Chance bekommen, Kernfächer zu besetzen, sagt sie. „Weil das natürlich sehr stark beeinflusst, wie sich islamisches Denken im 21. Jahrhundert im westlichen Kontext entwickelt.“ Inhaltlich ist das Institut derweil schon auf einem guten Weg — seit Herbst 2018 gibt es, einmalig in der europäischen universitären Landschaft, das Fachgebiet Alevitisch-Theologische Studien. Die Professur hat eine Frau inne.