Politik

Brasilien: Vormarsch der Evangelikalen

In Brasilien wird am Sonntag gewählt, und religiösen Gruppen – vor allem evangelikalen – kommt eine besondere Bedeutung zu. Wenn es zu einer Stichwahl kommen sollte, dann durch ihre Stimmen. Denn der amtierende ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro weiß diese Gruppe geschickt zu instrumentalisieren.

Bolsonaro betreibe Politik in vielen Punkten genau nach den reaktionären Grundsätzen der evangelikalen Gruppen, schreibt der Journalist und Brasilien-Experte Niklas Franzen im Onlinejournal für Internationale Politik und Gesellschaft (IPG). Mit Hilfe der Bolsonaro-Regierung haben sich Mitglieder dieser Gruppe in allen Bereichen des Staates festgesetzt, um den Staat nach ihren erzkonservativen Vorstellungen umzubauen – beispielsweise in Behörden und dem obersten Gericht, sagt Franzen gegenüber religion.ORF.at.

Bolsonaros Wahlkampfparole lautet „Brasilien über alles, Gott über allen“ und damit verschwinde zunehmend die Trennlinie zwischen Staat und Kirche, so der Journalist und Autor des Buches „Brasilien über alles: Bolsonaro und die rechte Revolte“.

Umfragen sprechen für Sieg Lulas

Mehr als 156 Millionen Wahlberechtigte wählen in Brasilien am Sonntag den Präsidenten und Vizepräsidenten, die Senatoren und Abgeordneten im Parlament und die Gouverneure und Vizegouverneure der Bundesstaaten. Gute Chancen auf das Präsidentenamt hat der bereits von 2003 bis 2010 amtierende Luiz Inacio da Silva – genannt Lula – von der Arbeiterpartei PT. Er liegt in den Umfragen vorne, vor allem auch bei Katholikinnen und Katholiken. Lula stehe den progressiveren Teilen der römisch-katholischen Kirche und der Befreiungstheologie nahe, so Franzen.

Aber auch dem rechten Amtsinhaber Bolsonaro von der Liberalen Partei (PL) könnte es – vor allem mit evangelikalen Stimmen – gelingen, im Amt zu bleiben. Sie hatten schon bei seiner Wahl 2018 den Ausschlag gegeben – alle großen evangelikalen Kirchen gaben damals Wahlempfehlungen für ihn ab. Dieses Mal sei die Unterstützung durch die evangelikalen Kirchen nicht ganz so stark, sagt Franzen, einige progressivere hätten sich eher auf die Seite Lulas geschlagen.

Inszenierte Religion

Bolsonaro suchte und inszenierte seine Nähe zu den Evangelikalen geschickt. So ließ sich der eigentliche Katholik 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan erneut taufen. Seine dritte Ehe wurde durch einen Pfingstkirchen-Pastor geschlossen. Zudem überlebte er 2018 ein Attentat, was für viele Evangelikale den Beweis erbracht habe, dass Bolsonaro „von oben“ geschickt worden sei, sagt Franzen.

Präsident Jair Bolsonaro mit Predigern und anderen Männern auf einer Bühne vor einer riesigen „Jesus“- Leuchtschrift
APA/AFP/Mauro Pimentel
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro bei einem öffentlichkeitswirksamen Gebet Mitte September 2022

Bolsonaro versuche, aus der anstehenden Wahl einen Endkampf zwischen Gut und Böse zu machen, schreibt der Journalist. Auch die Evangelikalen würden eine „spirituelle“ Kriegsführung gegen alles Böse, das der modernen Welt innewohne, betreiben. Die Folge sei, dass erneut viele Pastoren offen zur Wahl von Bolsonaro aufrufen und gegen den Gegenkandidaten Lula wettern. Dieser werde als „Antichrist“ und „Kommunist“ verteufelt.

Radikale Bibeltreue

Evangelikalismus ist eine theologische Strömung innerhalb des Protestantismus. Die vielen Gruppen sind nicht einheitlich organisiert. Gemeinsam ist ihnen das wörtliche Verständnis der Bibel, das auch von Laien ausgelegt werden soll. Ein Erweckungs- bzw. Bekehrungserlebnis, etwas Charisma und Geld sowie ein paar Unterstützer könnten genügen, um sich Pastorin oder Pastor zu nennen, sagt Franzen.

Buchhinweis

Niklas Franzen: „Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte.“ Assoziation A, 2022, 240 Seiten, 18,95 Euro.

Als Gottesdienststätten dienen Garagen genauso wie Fußballstadien und Riesenkirchen mit Platz für bis zu 10.000 Gläubige. Zentral sind das Erlebnis und die individuelle Beziehung zu Gott. Besonders in Pfingstkirchen drücken sich diese auch in Zungenreden und Ekstase aus. Die Kirchen seien teils hochtechnologisiert, die Musik mitreißend, es werde getanzt, laut gebetet und gesungen, so Franzen.

Materieller Erfolg als Gunst Gottes

Die meisten evangelikalen Kirchen vertreten ein traditionelles Familienbild, wenden sich gegen Homosexualität und LGBTIQ, gegen Frauenemanzipation und teilweise gegen afrobrasilianische Religionen wie etwa Candomble und Umbanda, die als „Teufelszeug“ dämonisiert würden, sagt der Brasilien-Experte. Zudem werde der Kommunismus verdammt und die Welt in Gut und Böse eingeteilt.

Bei einigen Gruppen sei auch das Konzept der Wohlstandstheologie wesentlich, „das besagt, dass materieller Erfolg ein Zeichen für die Gunst Gottes sei.“ Allerdings stehen manche Pastorinnen und Pastoren in der Kritik, sie würden sich bereichern, während ihre Mitglieder oft arm sind. Die Mitglieder müssen ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirchen abgeben.

Gepredigt werde unter anderem, dass man eben auch materiell belohnt werde, wenn man sich genügend anstrenge und gottgefällig lebe. „Die Bibel trifft auf neoliberale Gedanken“, womit es in wirtschaftlichen Fragen Schnittmengen mit Bolsonaros Projekt gebe, schreibt Franzen in seinem Buch.

„Religiöse Revolution“

Brasilien galt lange als das größte katholische Land der Welt. In den 1960er Jahren waren mehr als 90 Prozent der Menschen katholisch, nun sind es etwa 50 Prozent und prognostiziert wird, dass die Evangelikalen in etwa zehn Jahren die Mehrheit stellen. Als „religiöse Revolution“ werde das von manchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bezeichnet, so Franzen. Besonderen Zulauf hätten erzkonservative Pfingstkirchen.

Wer auch immer Präsident wird, wird sich wohl mit dieser religiösen Gruppe befassen müssen, denn sie wächst und Prognosen zufolge könnten sie in etwa zehn Jahren die Mehrheitsreligion darstellen. Und auch politisch werden sie weiter mitmischen, erwartet Franzen.

Präsent, wo der Staat es nicht ist

Warum besonders viele Frauen auf evangelikale Angebote reflektieren, erklärt Franzen damit, dass diese Kirchen dort präsent sind, wo der Staat es nicht ist. In Armenvierteln würden sie Kultur- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche aufbauen, es gebe Gemeinschaft und die – oft alleinerziehenden – Frauen, die häufig die Familienoberhäupter seien, hätten dort Ansprechpartner.

Das neoliberale Weltbild der Wohlstandstheologie gebe dabei Mut, so Franzen. Der „notorische Sexist“ Bolsonaro schneide aber bei Frauen insgesamt schlecht ab. Daher sei zuletzt seine Ehefrau Michelle häufig bei seinen Auftritten dabei – wohl um signalisieren zu wollen, dass er doch nicht so schlimm sei, wie es oft heiße, sagt Franzen.

Katholische Bischöfe positionieren sich

Die römisch-katholischen Bischöfe in Brasilien haben sich – entgegen der Tradition – in diesem Wahlkampf offen politisch positioniert. Anfang September riefen 450 katholische Priester in einem offenen Brief zur Abwahl Bolsonaros auf. Er habe den Namen Gottes missbraucht und Hassreden gehalten. Auch die Liberalisierung der Schusswaffengesetze kritisierten sie. Zudem nehme man Bolsonaro übel, dass er sich aus Machtinteresse über die Jahre immer enger an die großen Pfingstkirchen band, berichtete Kathpress.

Und am Wochenende vor der Wahl wandten sich die Bischöfe mit der Bitte an Papst Franziskus, den Wahlausgang am Sonntag anzuerkennen. Bolsonaro hatte angekündigt, ein anderes Ergebnis als seinen klaren Sieg nicht anzuerkennen.