Es ist ein Phänomen aus der Zeit der frühen Kirche im dritten Jahrhundert, als Christinnen und Christen im römischen Reich noch verfolgt wurden: Gläubige pilgerten am Todestag von Märtyrern – also Menschen, die für ihren Glauben gestorben sind – zu deren Gräbern und schmückten diese. „Man hat schnell begonnen, Reliquien zu sammeln – Teile der Kleidung und des Körpers“, sagt die Theologin und Kirchenhistorikerin Christina Traxler zu religion.ORF.at. Der christliche Heiligenkult war geboren.
„Die Heiligenverehrung geht immer von unten nach oben aus“, sagt Traxler. Das sei noch heute der Fall. „Der Papst kann nicht sagen, ich mache jetzt einen neuen Heiligen, der eigentlich nirgends verehrt wird.“ Dennoch, es ist der Papst, der das letzte Wort im Heiligsprechungsverfahren hat. Papst Gregor IX. beschränkte 1234 das Recht, Verstorbene heiligzusprechen, auf Päpste, davor konnten das auch Bischöfe. Und Heilige mussten, seit das Christentum im vierten Jahrhundert zur Staatsreligion wurde, nicht mehr nur Märtyrer sein.

Kirchenpolitik spielt mit
Es wurden zunehmend Mönche, Jungfrauen, Witwen und Einsiedler heiliggesprochen, die für ihren Glauben ein Leben voll Verzicht geführt hatten. Später wurden immer mehr Bischöfe und Fürsten zu Heiligen – mitunter aus kirchenpolitischen Überlegungen. „Wenn man in die Geschichte der Heiligsprechungen schaut, dann spielt Kirchenpolitik immer auch eine Rolle“, sagt Traxler. Das, was Päpsten in ihrem Pontifikat ein Anliegen war, sei „durch Heilige bestätigt oder gefördert“ worden.
Papst Johannes Paul II. sprach in seinem Pontifikat (1978–2005) 1.338 Menschen selig und 482 heilig – und damit mehr als alle seine Vorgänger zusammen. Der Heiligsprechung muss eine Seligsprechung vorausgehen. Dass Johannes Paul II. die Eröffnung eines Seligsprechungsverfahrens für die Ordensfrau Mutter Teresa schon nach zwei statt der erforderlichen fünf Jahre Wartezeit nach dem Tod zuließ, lässt sich auch mit kirchenpolitischen Überlegungen des Papstes erklären, der der fortschreitenden Säkularisierung begegnen wollte.
Rasches Verfahren für „Engel von Kalkutta“
Mutter Teresa galt als tiefgläubige Frau, die die christlichen Werte von Nächstenliebe mit einer Strahlkraft in weite Teile der Welt transportierte. Der „Engel von Kalkutta“ wird heute auch kritisch betrachtet, galt vielen zu Lebzeiten aber bereits als Heilige. Nach ihrem Tod 1997 erkannte Papst Johannes Paul II. sehr rasch die Heilung einer Inderin als ein Wunder Mutter Teresas an, das für Selig- und Heiligsprechungen in der Regel notwendig ist.
Der Theologe Jan-Heiner Tück sagte im Gespräch mit religion.ORF.at, Papst Johannes Paul II. habe mit seiner Vielzahl an Heiligsprechungen „den unterschiedlichen Ortskirchen der Welt leuchtende Vorbilder im Glauben vor Augen führen“ wollen und zudem „dem Säkularisierungstrend etwas entgegensetzen“.

„Klar politisch motiviert“
Laut Kirchenhistorikerin Traxler schließe das Vorhandensein „politischer Implikationen“ aber nicht aus, „dass der Kandidat heilig ist“. Im 13. Jahrhundert sei zwischen König Philipp dem Schönen und Papst Bonifatius VIII. ein Streit entbrannt, „ob die geistliche oder die weltliche Macht höher steht“.
Vor diesem Hintergrund sei die Heiligsprechung von König Ludwig IX. von Frankreich durch den Papst eine Art Zugeständnis und „klar politisch motiviert“ gewesen. Ludwig, ein Kreuzritter, sei aber schon zu Lebzeiten breit verehrt worden. Der Überlieferung nach glich sein Privatleben mehr dem eines Ordensmannes als dem eines Königs, er sei demütig, geduldig, ein liebevoller Vater und voller Zuneigung mit Armen und Kranken gewesen.
Brutal und heilig
Weniger offensichtlich ist, inwieweit das Leben von Kaiser Karl dem Großen (747/748–814) als leuchtendes Beispiel für Christinnen und Christen dienen soll. Im Heiligenlexikon wird der Feldherr als „brutal“ bezeichnet. Er habe „nicht durch eine besonders vorbildliche Lebensführung geglänzt“, sagt Tück.
Doch im 12. Jahrhundert wurde er auf Intervention von Kaiser Friedrich Barbarossa im Auftrag des damaligen Gegenpapstes Paschalis III. heiliggesprochen. Allerdings wurde die Heiligsprechung von Papst Alexander II. nicht anerkannt, sie wurde von der Kurie aber auch nie beeinsprucht. Daher steht Karl der Große bis heute am 28. Jänner im kirchlichen Kalender.
Bis zu 250.000 Euro Kosten
Selig- und Heiligsprechungsverfahren sind eine komplexe und langwierige Angelegenheit. Wer heiliggesprochen werden soll, muss ein Martyrium erlitten oder besonders vorbildlich und tugendhaft gelebt haben. Und der Betroffene muss – Märtyrer ausgenommen – nach seinem Tod zwei Wunder gewirkt haben. Das seien, so Traxler, meistens auch von Medizinern nicht erklärbare Heilungen, „die auf Fürbitte passiert“ sein sollen.

Eine Hürde sind auch die Kosten des Verfahrens, nämlich für diejenigen Gemeinden und Diözesen, die ein solches initiieren wollen. Die kolportierten Zahlen bewegen sich zwischen 50.000 und 250.000 Euro. „Man muss Anwälte bezahlen, Theologen, die Schriften untersuchen, mehrere unabhängige medizinische Gutachter, die Wunder überprüfen, Dokumente müssen übersetzt werden“, sagt Traxler.
Fällig werden auch Gebühren beim vatikanischen Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, das das Verfahren durchführt. Dass der Zugang zur Heiligsprechung dadurch nicht für alle gleich ist und ökonomisch schwache Diözesen im Nachteil sind, liegt auf der Hand. Unter Papst Franziskus sei allerdings „ein Hilfsfonds für ärmere Diözesen“ eingerichtet worden.
Typische Heilige: „Weiß und keusch“
Mangelnde Vielfalt bei den Heiliggesprochenen kritisierte zuletzt die deutsche Theologin Doris Reisinger. Der „typische Heilige“ sei „ein weißer europäischer Priester“. Es fehlten dagegen die afrikanische Mutter, der asiatische Familienvater, die lateinamerikanische Ärztin und der australische Arbeiter. Es müsse möglich sein, „ohne Keuschheitsgelübde und Martyrium“ heiliggesprochen zu werden, so Reisinger.
Das Fehlen afroamerikanischer Heiliger und Seliger beklagte im Vorjahr eine katholische Laieninitiative in den USA in einem offenen Brief an Papst Franziskus. Drei Pfarren in Baltimore schlossen sich 2021 zusammen, um zu erreichen, dass mehrere bedeutende afroamerikanische Katholikinnen und Katholiken heiliggesprochen werden.

Afroamerikanische Katholikinnen und Katholiken seien der Kirche in Zeiten der Sklaverei und der auch in der Kirche praktizierten „Rassentrennung“ treu geblieben. Dass diese Gemeinschaft bisher keine Seligen oder Heiligen hat, sei ein Zeichen von andauerndem strukturellem Rassismus in der Kirche.
Dass in das 2010 begonnene Seligsprechungsverfahren des ersten schwarzen US-Priesters Augustus Tolton (1854–1897) dieses Jahr wieder Bewegung kam, könnte mit der Initiative zusammenhängen. Es sei im Sinne der Weltkirche wichtig, dass jede Gegend „die gleichen Möglichkeiten hat, ihre Heiligen als Identifikationsfiguren zu bekommen“, sagt Traxler. Den Bedarf nach einer geografischen Ausgewogenheit habe man schon nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gesehen, „als man den Heiligenkalender neu gestaltet hat“. Johannes Paul II. habe versucht, hier einen Ausgleich zu schaffen.
Papst musste kein Wunder wirken
Einen „kirchenpolitisch interessanten“ Balanceakt hat laut Tück Papst Franziskus 2014 mit der gemeinsamen Heiligsprechung von Johannes Paul II. und Johannes XXIII. hingelegt. Johannes Paul II. sei für eine „konservative Kirchenpolitik“ gestanden, „während der Reform- und Konzilspapst Johannes XXIII. für Modernisierung steht“, sagt der Theologe. „Indem er beide zusammengenommen hat, hat er alle Akteure in der katholischen Kirche zufriedengestellt.“ Damit Johannes XXIII. heiliggesprochen werden konnte, verzichtete Papst Franziskus sogar auf das zweite, eigentlich notwendige Wunder.
„In einem bislang unbekannten Ausmaß“, kritisiert Tück, habe es in den vergangenen Jahren eine Heiligsprechung von Päpsten gegeben. Dabei habe nicht zuletzt der mittlerweile Heilige Johannes Paul II. von Missbrauchsfällen im Klerus „nichts wissen wollen“. Doch der beliebte Papst wurde nur neun Jahre nach seinem Tod und damit in Rekordzeit heiliggesprochen. Die Verehrung im Kirchenvolk und in der Amtskirche war groß.