Hände, Solidarität
Getty/Jon Feingersh Photography Inc
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Gesellschaft

Die Crux mit der Solidarität

Der Begriff Solidarität ist in aller Munde – vielleicht, weil sie in so vielen Bereichen schmerzlich vermisst wird. In Zeiten mehrfacher Dauerkrisen ist die Solidarität offenbar selbst in einer Krise: Das hat unter anderem mit Folgen der Coronavirus-Pandemie zu tun – und mit dem Umgang damit.

Was wir meinen, wenn wir über Solidarität sprechen, worin sie begründet ist, wem wir sie zugestehen und wem nicht: Zu diesen Themen forscht und arbeitet Barbara Prainsack, Politikwissenschaftlerin an der Uni Wien und Vorsitzende der Europäischen Ethikkommission.

Solidarität habe derzeit „keine besonders gute Presse“, sagt Prainsack im Gespräch mit religion.ORF.at, „weil sie, und wir sehen das auch in unserer Pandemieforschung an der Uni Wien, immer wieder gebraucht wird, um den Leuten mehr und mehr abzuverlangen“. Während der Pandemie habe es immer wieder geheißen: „Jetzt müsst ihr solidarisch sein, jetzt müsst ihr euch impfen lassen, geduldig sein und so weiter.“

„Solidarität bekommt einen schlechten Namen“

Das habe sie in ihrer Forschungsarbeit gemerkt: „Solidarität bekommt einen schlechten Namen, wenn der Begriff immer nur verwendet wird, um etwas von den Menschen zu verlangen.“ Die Leute hätten das Gefühl vermittelt bekommen, „dass die Elite nichts tut, um selbst auch Solidarität zu üben – sei es beim Teilen von Impfstoffen oder auch in der Klimakrise – und auch nichts, um institutionalisierte Solidarität zu stärken“.

Mit dem Steigen der Energie- und Lebenskostenpreise sei auch die institutionelle Solidarität wieder gestiegen: „Der Staat gibt wieder mehr.“ Im Pandemieverlauf habe man gesehen, „dass es eine Wandlung in der Art der Solidarität gegeben hat, von der ‚Out group‘- zur ‚In group‘-Solidarität, anders gesagt von der inklusiven zur exklusiven Solidarität: Man ist also mit jenen solidarisch, die auch Masken tragen und geimpft sind, oder mit denen, die auch aufstehen gegen die ‚Tyrannei‘ des Staates.“

Allmachtsfantasien und „Putin-Versteher“

Dieser Trend zu Solidaritätsgruppen sei „übergeschwappt zum Krieg in der Ukraine – interessanterweise haben sich diese ‚In-groups‘ gar nicht so stark verändert“, sagt Prainsack. Es ließen sich immer noch ähnliche Gruppen identifizieren: „Die Leute, die früher gesagt haben: ‚Wir lassen uns vom Staat nicht mehr unterdrücken‘ und: ‚Der Bill Gates will uns Chips einpflanzen‘, sind heute häufig die ‚Putin-Versteher‘“, so die Politologin. Zum Teil erkenne man auch Allmachtsfantasien: Menschen, die davon ausgehen, dass sie allein besser zurechtkommen, nicht ernsthaft krank würden und Ähnliches.

Eine solche Haltung könne dazu führen, dass diese Menschen keinen Sinn für sich in solidarischem Handeln sehen, denn Solidarität „besteht dann, wenn man aufgrund einer Gemeinsamkeit, die man mit anderen empfindet, diese anderen Personen unterstützt. Es bedeutet nicht, dass ich nur mit Menschen solidarisch sein kann, die Österreicherinnen sind oder Frauen oder sonst etwas. Wir erkennen das als Gemeinsamkeit, was wir gelernt haben zu erkennen.“

Sendungshinweis

„Kreuz und quer“: Damit es nicht zu still wird – Wege aus der Einsamkeit, Dienstag, 20.12.2022, 22.35 Uhr, ORF2

Bei internationalen Krisen wie dem Ukraine-Krieg sehe man häufig ein Ansteigen des Vertrauens gegenüber der Regierung, ein generelles Zusammenrücken und Zusammenhalten. „Je länger die Krise dauert, umso mehr differenziert sich das aus, weil man diese undifferenzierte Unterstützung aller anderer Menschen nicht lange durchhalten kann“, sagt Prainsack. Da komme dann die institutionalisierte Solidarität zum Tragen: Hilfe durch den Staat.

Keine Spaltung in Österreich

Eine Spaltung, wie sie oft heraufbeschworen wird, sieht Prainsack in Österreich nicht: „Wir haben weniger Spaltung, weniger Probleme, als das in anderen Staaten der Fall ist, wo der Staat weniger unterstützt.“ Die USA seien hier ein gutes Beispiel, „weil hier die Mittelschicht weggebrochen ist, weil die Leute wirkliche Existenzängste haben – dadurch wird dieser Graben größer, Xenophobie steigt, Radikalisierung steigt“.

Die Politologin Barbara Prainsack
Johanna Schwaiger
Politologin Barbara Prainsack

In vielen Studien zeige sich: Je größer Ungleichheit ist, desto eher passieren Dinge mit einer Gesellschaft, die für alle schlecht sind. Als Vergleich nennt die Expertin etwa Israel und eben die USA, wo Gruppen, die miteinander viel zu tun hatten, mittlerweile nichts mehr voneinander wissen wollen. „Was wir in Österreich haben, sind Diversifizierungen, die fluider sind.“

Solidarität an sich „ist nie direkt reziprok (gegenseitig, Anm.), immer indirekt reziprok“, erklärt Prainsack. Ein gutes Beispiel dafür sei das österreichische Gesundheitssystem, in das man als Erwerbstätige einzahlt und nicht sofort mit einer Gegenleistung rechnen kann – aber irgendwann vermutlich schon. Das unterscheide Solidarität von Caritas und Mitgefühl oder auch Charity, wo „ich gebe, weil ich habe, weil andere weniger haben als ich, aus einer privilegierten Position heraus“.

„Es muss eine Gießkanne geben“

Die viel gescholtene Verteilung von Leistungen via „Gießkannenprinzip“ nimmt die Expertin in Schutz: „Den Widerstand gegen eine Gießkanne finde ich moralisch verdächtig. Es muss eine Gießkanne geben, weil man nur damit auch jene erwischt, die nicht in grausamer Armut leben. Das System wird sonst überkomplex.“ Es würden schließlich auch Grundbedürfnisse wie Pflege, Straßennetz, Schulsystem und anderes „per Gießkanne“ befriedigt. Man solle lieber Leute, die mehr haben, dafür an anderer Stelle mehr zahlen lassen, und Steuerschlupflöcher schließen.

Am Beispiel Klimabonus zeigt sich, wie umstritten solche Entlastungsleistungen für alle sein können: Vielfach wurde kritisiert, dass auch Asylwerber das Geld erhalten haben. „Solidarität endet dort, wo ich keine Gemeinsamkeiten mehr entdecken kann oder will“, so Prainsack. Das Narrativ von den „undeserving poor“, Armen, die eigentlich keine Hilfe verdienen, weil sie nicht unverschuldet arm sind oder weil sie noch nichts eingezahlt haben, ebenso wie die Erzählung „von den faulen Migranten, die sich nur ein besseres Leben machen wollen“, kann zu verminderter Solidarität führen.

Hannah Arendt, US-amerikanische Philosophin, Politikwissenschaftlerin und Soziologin deutscher Herkunft
APA/dpa
Die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt fand: „Es gibt keine unbedingte Solidarität“

So viel auch zu den negativen Seiten von Solidarität: „Exklusive Solidarität kann harmlos, aber auch Solidarität in einem rassistischen oder terroristischen Verein sein, die Gemeinsamkeit könnte hier sein, der ‚weißen Rasse‘ anzugehören und damit besser zu sein als andere.“

„Keine unbedingte Solidarität“

Gleichzeitig kann falsch verstandene Solidarität auch einschränken. Wie die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“ (1959–1973) schreibt: „Es gibt keine unbedingte Solidarität. Das ‚wir sitzen alle in einem Boot‘ ist ein Beispiel der falschen, verabsolutierenden Solidarität.“

Solidarität ist schlussendlich für jene, die außerhalb der Gruppe stehen, nicht unbedingt positiv. Sie brauche immer andere Werte, um im Dienste der Gerechtigkeit und Humanität zu stehen, erinnert Politologin Prainsack. Das „Potenzial der Ausgrenzung“ sehe man unter anderem beim nationalistischen Kurs des ungarischen Premiers Viktor Orban, aber auch in Kampagnen der FPÖ und der ÖVP unter Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Solidarität braucht ein Gegenüber

Schwer zu beantworten ist die Frage nach dem Verhältnis von Solidarität und Religion. „Viele Religionen haben eine bestimmte Superioritätsvermutung: Mit dem richtigen Glauben sei man doch ein bisschen besser und dem Himmel näher als alle anderen“, so Prainsack. Religionen können verbindend, aber auch abgrenzend wirken.

Was Solidarität im Gegensatz zu Altruismus und Mitgefühl auf jeden Fall braucht, ist ein Gegenüber: „Ich kann in einer einsamen Berghütte sitzen, keinen Menschen sehen und trotzdem noch altruistisch sein. Ich kann aber ohne andere nicht solidarisch sein.“ Dabei sei Solidarität für alle gut, so Prainsack. Nach dem Motto „Geben ist seliger denn Nehmen“ zeigten Studien: Unterstützung zu geben hat positive Effekte für die oder den Gebenden selbst.