Kunstinstallation von Arye Wachsmuth und Sophie Lillie. In blauer Leuchtschrift steht der Text „Endsieger sind dennoch wir“ geschrieben.
Arye Wachsmuth
Arye Wachsmuth
Ausstellung

100 Missverständnisse zwischen Kitsch und Erinnerungskultur

Die Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ im Jüdischen Museum Wien rückt Stereotype augenzwinkernd in den Fokus, parodiert kitschige Klischees und beschreitet neue Wege des Erinnerns, die aus dem Rahmen einer vermeintlich „angemessenen“ Erinnerungskultur fallen.

Juden und Jüdinnen werden in vielerlei Hinsicht „anders“ oder als Fremde wahrgenommen, sind also von einem sogenannten Othering betroffen, wie Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums Wien, gegenüber religion.ORF.at sagt. Dafür zeichne aber nicht nur ein Antisemitismus verantwortlich, sondern auch ein Philosemitismus, „die zweite Seite der Medaille des Antisemitismus“, so Staudinger.

Aus dem Griechischen übersetzt bedeute Philosemitismus: die Liebe zum Judentum. Viele Missverständnisse sind aber salopp gesagt, auf eine „zu liebevolle Umarmung“ des Jüdischen zurückzuführen, folgt man den Ausführungen der Museumsdirektorin. Ein kitschiges, romantisches Denken ergebe ein genauso falsches Bild von Jüdinnen und Juden wie ein antisemitisches. „Auch positive Vorurteile sind Vorurteile“, so Staudinger.

Ein Mann trägt eine Lederjacke mit dem Aufdruck „Judenfreund“.
Benyamin Reich
Der „Judenfreund“, ein „personifiziertes Missverständnis“

Als „personifiziertes Missverständnis“ beschreibt Staudinger etwa den „Judenfreund“, der von dem israelischen Fotografen Benyamin Reich abgelichtet wurde. Die 2018 angefertigte Fotografie zeigt einen Mann mit Glatze, der eine Lederjacke mit der Aufschrift „Judenfreund“ in gotischen Lettern trägt. Darunter sind ein Reichsadler mit Israelflagge, ein durchgestrichenes Hakenkreuz und ein Davidstern abgebildet. „Von hinten mutet er irgendwie wie ein Neonazi an. Man steht vor dem Bild und schüttelt den Kopf“, sagt Staudinger. Dabei sei der „Judenfreund“ sozusagen mit einem Haufen positiver Vorurteile „aufmunitioniert“.

Barbara Staudinger
APA/Robert Jaeger
Barbara Staudinger ist seit Juli 2022 Direktorin des Jüdischen Museums Wien

Reich traf den „Judenfreund“ bei antirassistischen Demos und Pro-Israel-Veranstaltungen in Berlin. Am Ende einer Kundgebung beobachtete er den „Judenfreund“ dabei, wie er von Stand zu Stand ging, um sich bei „den Juden“ dafür zu bedanken, dass sie sie selbst seien. Problematisch an dieser Art Philosemitismus sei, dass er auf einem Paternalismus fuße, so Staudinger. Der „Judenfreund“ maße sich an, über Juden und Jüdinnen zu urteilen, die er gar nicht kenne. Sie als gut zu loben, so wie sie sind, vergleicht sie mit einem Streicheln kleiner Zootiere.

Der vermeintlich jüdische Bierkrug

Staudinger, die zuvor das jüdische Museum in Augsburg leitete und seit Juli 2022 Direktorin des jüdischen Museums in Wien ist, hat zahlreiche Ausstellungen in jüdischen Museen kuratiert und besucht. Die aktuelle Ausstellung, so Staudinger, sei auch eine Reflexion über Stereotype und Missverständnisse, die von Museen hervorgebracht oder „zementiert“ worden seien.

Auf der Suche nach guten Objekten und in dem Wunsch zu zeigen, wie viel auch in der Alltagskultur jüdisch sei, seien auch schon Museen dem ein oder anderem Irrtum aufgesessen. Zwei Beispiele finde sie „ganz lustig“, wie Staudinger gegenüber religion.ORF.at erzählt. Der Davidstern, das Hexagramm, sei das jüdische Symbol schlechthin. Was aber noch nicht überall ganz durchgedrungen sei: „Der sechszackige Stern ist auch das Zeichen der Brauereiinnung.“ Bei dem Symbol auf mancherorts ausgestelltem, vermeintlich jüdischem Bierkrug handelt es sich also lediglich um den Brauerstern und nicht um ein jüdisches Gütesiegel.

Räume des jüdischen Museums. Ausgestellt ist ein gelber Davidstern.
Ouriel Morgensztern
Der US-amerikanische Künstler Cary Leibowitz („Candy Ass“) thematisiert in seinem Werk, wie etwa „Hi Jewboy.Hi“ satirisch und selbstironisch Identitätsfragen

Ähnlich verhalte es sich mit Sammlungen von jüdischen Ofentüren, Kacheln oder Bügeleisen, die mit einem sechszackigen Stern, dem alten Zeichen der Feuerwehr, versehen sind. Ein solcher „jüdischer Ofen“ wurde bereits zwei Mal im Jüdischen Museum Wien ausgestellt und hat darum auch in der aktuellen Ausstellung über 100 Missverständnisse wieder seinen Platz gefunden. „Das ist aber kein Einzelfall“, so Staudinger. Beispiele für vorgeblich jüdische Ausstellungsstücke könne man in Museen in ganz Europa finden.

Die jüdisch-amerikanische Prinzessin

Die Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ ist die erste ihrer Art, die sich dezidiert dem Philosemitismus widmet. Eine positive Aufgeschlossenheit gegenüber dem Judentum habe in der Geschichte und insbesondere nach der Schoah dazu geführt, dass antisemitische Vorurteile ins Positive umgekehrt wurden, so Staudinger.

Sinnbildlich dafür kann die finanziell verwöhnte jüdisch-amerikanische „Prinzessin“ (JAP) stehen, ein Stereotyp, das die US-amerikanische Film- und Fernsehindustrie mit Figuren wie etwa Rachel Green (gespielt von Jennifer Aniston) in der Serie „Friends“ hervorgebracht hat.

Ausstellungsstück. Eine Chaneltasche mit Lippenstiften, die wie ein Chanukkaleuchter angeordnet sind.
The Jewish Museum, NY/Rhonda Lieberman Cary Leibowitz
Die „Chanel Hanukkah“ von Cary Leibowitz und Rhonda Lieberman ist Teil der Ausstellung im Jüdischen Museum Wien

Fran Drescher in „Die Nanny“ habe die Vorurteile, die einer lauten, schrillen, in Designerteile gekleideten Jewish Princess zugeschrieben werden, positiv überformt und parodiert, so Staudinger. In die Tradition der Parodie des wirtschaftlichen Wohlstands von JAPs, die leichtfertig mit dem Geld ihrer Eltern leben, lässt sich das Ausstellungsobjekt „Chanel Hanukkah“ von Cary Leibowitz und Rhonda Lieberman einordnen.

1991 gestalteten die Künstlerinnen die goldfarbene Tasche der Marke Chanel als eine Art Chanukka-Kerzen-Installation. Die Komposition, die einen jüdischen Ritualgegenstand zur bloßen Imagedekoration macht, parodiere nicht nur die Luxusmarke Chanel, sondern vor allem den Materialismus der JAP-Kultur, der mit religiösen Grundsätzen in Konflikt stehe, so der Programmtext zur Ausstellung.

Gemeinsam über Missverständnisse lachen

„Für viele Menschen ist es heute noch immer schwierig, das Wort Jude oder Jüdin auszusprechen“, so Staudinger. Oftmals sei das auf die „mitgeschleppte Schuld“ aus der Zeit des Nationalsozialismus zurückzuführen. Gerade der sprachliche Versuch, Juden und Jüdinnen zu integrieren, führe aber zu den absurdesten Konstruktionen. Man spreche dann eben von „jüdischen Mitbürgern“ und „jüdischen Menschen“, als ob man ihnen ein Adjektiv vorstellen müsse, um herauszuarbeiten, was an ihnen besonders ist. „Man spricht aber nicht von männlichen oder christlichen Menschen“, so Staudinger.

Ausstellungshinweis

Die Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ ist vom 30. November 2022 bis 04. Juni 2023 im Jüdischen Museum Wien, Dorotheergasse 11, 1010 Wien zu sehen.

Um diese oft vertrackten Beziehungen aufzulösen, verfolge das Jüdische Museum Wien den Ansatz: „Lachen wir doch gemeinsam über Missverständnisse“. Denn Lachen habe etwas Befreiendes, so Staudinger.

„Wie kann man nur?“

Ein Missverständnis, das immer wieder in erinnerungskulturellen Debatten auftauche, sei die Aura der Trauer, mit der alles tatsächlich oder nur angeblich Jüdische belegt oder romantisch idealisiert werde, so die Website des Jüdischen Museums Wiens. Die nichtjüdische Gesellschaft und nicht die Opferverbände würden bestimmen, wie man sich an Gedenkstätten würdig zu benehmen habe, so Staudinger.

Eine Arbeit von Sophie Lillie und Arye Wachsmuth zähle darum zu einem ihrer Lieblingsausstellungsobjekten, weil sie im ersten Moment verstöre. In blauer Leuchtschrift strahlt derzeit eine Abwandlung des Zitats von Heinrich Sussmanns „Endsieger bin dennoch ich“ über eine weiße Wand des jüdischen Museums. „Da denkt man: Das Wort Endsieger in einem Museum? Wie kann man nur?“, so Staudinger.

Kunstinstallation. Leuchtschriftbuchstaben bilden den Text: Endsieger sind dennoch wir.
Ouriel Morgensztern
Eine Kunstinstallation von Arye Wachsmuth und Sophie Lillie

Sussmann war Ausschwitz-Überlebender, der mit seinem Ausspruch auf die Endsiegparole von Adolf Hitler anspielte. „Dieser Endsieg wäre die Vernichtung aller europäischen Juden und Jüdinnen gewesen, doch jeder und jede Überlebende hat Hitlers Endsieg konterkariert. Sophie Lillie und Arye Wachsmuth haben die trotzige Behauptung des Widerstandes Sussmanns mit ‚Endsieger sind dennoch wir‘ ins Kollektiv geholt“, so Staudinger.

Das Zitat sei ein selbstbewusstes Feiern des Überlebens und trage Spuren des Unversöhnlichen. „Früher hat man gesagt, Erinnerungskultur muss passend und traurig sein“, so die Direktorin. „Aber diese Künstlerinnen sagen: Nein. Wir haben so lange mit diesem traurigen Gesicht erinnert, so lange ‚nie wieder‘ gesagt, bis ‚nie wieder‘ zur Phrase geworden ist,“ sagt Staudinger. Auch im Sinne des Ausstellungsstücks sei es, Erinnerungskultur heute anders zu machen. Erinnerungskultur dürfe auch stören und verstören.