Kind versteckt sich zwischen Pölstern
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Solidarität

Kinder und Jugendliche in Krisen stärken

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen, warnt die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kathrin Sevecke. Welche Hilfsangebote es gibt und was Eltern tun können, erklären Expertinnen und Experten religion.ORF.at.

Die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen erlebt Kathrin Sevecke in ihrer täglichen Arbeit, etwa in der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter in Hall und Innsbruck: „Wir haben in der Klinik jetzt deutlich mehr Patienten, die zum Beispiel im Nachtdienst oder auch tagsüber wegen akuter Belastung kommen.“

Kinder und Jugendliche würden vermehrt an Angststörungen, suizidalem Verhalten und Depressionen leiden. „Wir sehen seit einem halben Jahr aber auch mehr und schwerere Intoxikationen und mehr Mädchen mit Essstörungen“, so Sevecke. Auffällig sei, dass die Patientinnen mit Essstörungen mit elf, zwölf Jahren häufig deutlich jünger sind als noch vor wenigen Jahren. Verwunderlich sei der Anstieg an psychischen Erkrankungen aber nicht.

„Deutlich mehr und größere Krisen“

Während der Coronavirus-Pandemie hätten gerade die Jungen für viel herhalten müssen, sagt Sevecke. Die Schulschließungen und Lockdowns seien für viele eine enorme Belastung gewesen. Vor allem aber zeige sich, dass seit zwei Jahren die Krisen nicht mehr abzureißen scheinen. „Es ist ein konstanter Krisenmodus“, so Sevecke, „Kinder und Jugendliche nehmen auch mit, dass die Gesellschaft alarmierter und Eltern vielfach unsicherer sind.“

Für akute Krisensituationen

  • Kindernotruf: Tel.: 0800 567 567 (24h Hotline)
  • Kriseninterventionszentrum: Tel.: Tel.: 01 406 95 95 (Mo-Fr 10.00–17.00 Uhr)
  • Sozialpsychiatrischer Notdienst: Tel.: 01 313 30

Zudem falle es vielen Eltern und anderen Erwachsenen, die selbst stark belastet sind, schwer, Kinder und Jugendliche in der Situation anhaltender Krisen altersgemäß zu begleiten. Für Kinder und Jugendliche sei es wichtig, auch im größten Krisenmodus zumindest relativ sichere Orte zu haben, betont Sevecke: „Das heißt Orte für Entspannung, Spaß und Lockerheit.“ Es gehe nicht darum, Dinge schönzureden, aber auch nicht zu übertreiben, so Sevecke.

Sorgen und Ängsten Raum geben

Dass die Situation für Kinder und Jugendliche seit der Coronavirus-Pandemie zunehmend belastender geworden ist, beobachten auch Benjamin Vyssoki, ärztlicher Leiter und Co-Geschäftsführer des jüdischen psychosozialen Gesundheitszentrums ESRA, und Sabrina Fuchs-El Bahnasawy, Gründerin des islamischen Beratungsnetzwerk für Jugend und Familie. „Für Kinder und Jugendliche ist es sehr entscheidend, wie die Erwachsenen in ihrer Umgebung mit aktuellen Krisensituationen umgehen“, so Fuchs-El Bahnasawy.

Erwachsene sollten ihnen ihre Sorgen nicht umhängen, sie aber altersentsprechend informieren und ihre Fragen ernst nehmen. „Wird zu Hause offen über Krisen gesprochen und bekommen Kinder und Jugendliche auch Raum, eigene Sorgen und Ängste auszudrücken, dann ist schon viel gewonnen“, so Fuchs-El Bahnasawy. Wichtig sei aber auch, dass sich auch Eltern Hilfe holen, wenn sie selbst an Grenzen geraten. Wie Fuchs-El Bahnasawy betont, haben sich in letzter Zeit „tolle niederschwellige Onlineangebote entwickelt, wie etwa die Elternseite.at“, ein Angebot von Rat-auf-Draht für Eltern und andere Bezugspersonen.

Großer Bedarf an niederschwelligen Angeboten

Wie groß der Bedarf an niederschwelligen Angeboten ist, merke man auch bei der SALAM-Telefonseelsorge, so Fuchs-El Bahnasawy: „Gerade in den letzten Monaten ist die Zahl der Anrufe stark gestiegen.“ Viele der Anrufer seien Eltern, die Unterstützung für sich und ihre Kinder in schwierigen Situationen suchen. Gerade die dort mögliche Anonymität würde den Raum geben, auch Themen anzusprechen, die für manche in persönlichen Gesprächen schwer anzusprechen sind, erklärt Fuchs-El Bahnasawy.

Kinder sitzen vor dem Computer
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Onlineangebote können eine niederschwellige Hilfe sein

Ein tolles Projekt, um erste Berührungsängste zu überwinden sei auch Istokay.at, eine Website der Donau-Universität Krems in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der medizinischen Universität Wien, so Fuchs-El Bahnasawy. Die Website bietet unter anderem Videos, die Kindern und Jugendlichen Tipps geben, was sie bei Ängsten, Depressionen oder Schlafstörungen tun können. Zudem wird auf weitere Hilfsangebote verwiesen. Diese Informationen zu erhalten, könne schon beruhigend wirken.

Wie Vyssoki gegenüber religion.ORF.at erzählt, setze man auch bei ESRA vermehrt auf niederschwellige Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige: „Wir sprechen die Menschen mit Plakaten oder Onlineformaten mit der einfachen, aber essenziellen Frage an: ‚Wie geht’s dir?‘“. Im Rahmen dieser Kampagne sollen zukünftig auch Pädagogen, Pädagoginnen, Vereine und andere Multiplikatoren geschult werden, um Warnsignale für suizidales Verhalten früh erkennen zu können und um die Sensibilität für psychische Gesundheit zu stärken.

Kinder und Jugendliche brauchen Solidarität

Fuchs-El Bahnasawy zeigt sich überzeugt, dass es Aufgabe der Erwachsenen sei, den jungen Menschen nicht nur ökonomische Sicherheit zu geben, sondern ihnen auch beizubringen, wie man zu mentaler Stärke kommt und was Zusammenhalt bedeutet: „Ich denke, es ist für uns als Gesellschaft extrem wichtig, dass wir grade jetzt auf unsere Kinder und Jugendlichen, die ja unsere Zukunft sind, achten. Wir müssen uns ihnen zuwenden und mit ihnen solidarisch sein.“

Hand in Hand: Kind und Erwachsener
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Junge Menschen in Krisen brauchen Solidarität

Solidarität mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen zu zeigen, heiße zum Beispiel psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren, sagt Sevecke. Es sei zwar salonfähiger geworden zu sagen, dass es einem nicht gut gehe, gleichzeitig gebe es aber immer noch zahlreiche Tabuthemen wie etwa Gewalt, Traumatisierungen, Vergewaltigung oder Selbstverletzung. Auch hierüber sollte offener gesprochen werden können.

Hilfe via Telefon

  • Telefonseelsorge: Tel.: 142
  • SALAM-Telefonseelsorge: Tel.: 0800 999 179 (Mo 16:00-19:00 Uhr; Do 09.00-13.00 Uhr; ab Jänner zudem auch Di. 14.00-17.00 Uhr)
  • Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche: 147
  • Ö3 Kummernummer: 116 123 (täglich von 16.00-24.00 Uhr)
  • Telefonhotline der Schulpsychologie: Tel.: 0800 211 320 (Mo-Fr: 08.00-20.00 Uhr; Sa: 08.00-12.00 Uhr)
  • Anlaufstelle für Wiener Lehrlinge und ihre Bezugspersonen: Tel.: 01 997 1111 (Mo-Fr: 09.00-17.00 Uhr)

Es würde auch helfen anzuerkennen, dass letztlich alle Menschen ein bisschen meschugge sind, so die Obfrau von ESRA und Kultusrätin in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Jasmin Freyer: „Diese Tatsache macht uns aber nicht schwächer, sondern gerade, weil wir daran arbeiten, uns Hilfe holen und gemeinsam stark sind, wachsen wir über uns selbst hinaus.“ Es sei diese Offenheit, die ESRA auch versuche weiterzutragen, um Herausforderungen besser begegnen zu können.

„Stärken stärken“

Solidarität mit Kindern und Jugendlichen ganz generell heiße aber auch, mehr in Prävention zu investieren. Sevecke empfiehlt so etwa die Einführung eines Schulfaches, das sich kontinuierlich mit psychischer Gesundheit beschäftigt und Kindern und Jugendlichen Methoden aufzeigt, um Druck und Stress besser zu kanalisieren.

Dazu gehöre es auch, „Stärken zu stärken“ meint Vyssoki. Es gelte gerade in schwierigen Zeiten, vermehrt für Jugendliche und Kinder da zu sein. ESRA setzt hierfür auf die Zusammenarbeit auch mit Schulen und Jugendvereinen. Wie Freyer betont, würden sie zudem versuchen, „den Menschen in seiner Gesamtheit und auch den Kontext, in dem sich viele der Probleme abspielen“, zu betrachten.

Schlüssel Selbstwirksamkeit

Wie Sevecke betont, sei es essenziell, dass Kinder und Jugendliche sich auch in Krisenzeiten als selbstwirksam erleben können. Gerade bei Themen, die ihnen Schwierigkeiten bereiten, gehe es demnach darum, gemeinsam zu überlegen, was sie selbst tun könnten, um etwas zu verändern.

Eine Erfahrung, die auch Fuchs-El Bahnasawy teilt: „Je älter die Kinder sind, desto mehr kann man sie in familiäre Entscheidungen einbeziehen. Es spricht nichts dagegen, mit Jugendlichen darüber zu sprechen, wie man in der Familie Energie sparen kann, oder mit Lebensmitteln bewusst umgeht.“ Jeder kleinste Anteil sei wertvoll, jedes Kind und jeder Jugendliche könne mitüberlegen und sich selbst einbringen.

Baustelle Angebot

Aufgrund des hohen Bedarfs an psychologischer und psychotherapeutischer Unterstützung hat das Gesundheits- und Sozialministerium im Herbst 2022 die Mittel aufgestockt und auch das Projekt „Gesund aus der Krise“ verlängert, das psychosoziale Versorgung österreichweit anbietet. Dass es hier bereits wieder einen Vermittlungsstopp gibt, zeige aber, dass es nur unzureichend auf den tatsächlichen Bedarf reagiert. „Psychotherapie und auch fachärztliche Kinderpsychiatrie sind in Österreich absolut unterrepräsentiert“, sagt Sevecke.

Sendungshinweis

Schauplätze der Solidarität hat sich die Spezialausgabe der „Orientierung“ zum Auftakt des Schwerpunkts „Füreinander“ angesehen: „Orientierung“, Sonntag, 4.12.2022, 12.30 Uhr, ORF 2

In ganz Österreich würden viele Menschen auf stationäre Plätze warten. Dabei sei gerade bei akuten Fällen schnelle Hilfe notwendig. Es bräuchte viel politischen Druck, um hier Veränderungen zu bewirken, so Sevecke. Wie die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie betont, wäre wichtig, dass Psychotherapie von der Krankenkasse übernommen wird.

Notwendig wäre auch der Ausbau der stationsersetzenden Angebote (Home Treatment) für Kinder- und Jugendliche, die es bisher nur in Wien gibt. Aber auch ein regelmäßiges Monitoring der psychischen Gesundheit in Österreich und mehr Angebote, um Krisen im Vorfeld abzufangen, würden helfen, die Situation deutlich zu verbessern.