Ukraine

Das Kräftemessen zwischen den orthodoxen Kirchen

Der Krieg in der Ukraine spaltet die orthodoxen Kirchen. Er vertieft nur eine bereits seit vielen Jahren bestehende Kluft zwischen reformorientierten und konservativen Kräften. Im Wesentlichen spielt sich alles zwischen dem Patriarchat von Moskau und dem von Konstantinopel ab.

Das griechisch-orthodoxe Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel mit Bartholomaios an der Spitze gilt als eher reformorientiert, als eher konservativ das russisch-orthodoxe Patriarchat unter Kyrill. Zwischen den beiden besteht ein kirchenpolitischer Machtkampf um die Vorherrschaft. „Ähnlich wie in der römisch-katholischen Kirche“, sagt die Expertin für russische Orthodoxie und das Verhältnis von Kirche und Politik in Russland, Kristina Stoeckl, im Gespräch mit religion.ORF.at. Aber auch die Politik ist nicht ganz unbeteiligt.

Eine dritte Gruppe, darunter das Rumänische und das Serbische Patriarchat, vertreten eine Mittelposition: Sie seien in liturgischer Gemeinschaft sowohl mit Moskau als auch mit Konstantinopel, schreibt Ioan Moga, orthodoxer Theologe an der Uni Wien, in einem E-Mail-Interview mit religion.ORF.at. Überall gebe es reformorientierte und erzkonservative Kräfte, und er betont, dass die Spaltung nicht durch die ganze Gemeinschaft der orthodoxen Kirchen gehe.

Verteidigung gegen „gottlosen Westen“

Die Konflikte machen sich vor allem an der Einstellung zum Westen bzw. zu westlichen Werten und der modernen, säkularen Welt fest. Häufig geht es um den Umgang mit LGBTQ-Personen – und eben um den russischen Krieg gegen die Ukraine.

Patriarch Kyrill, seit 2009 im Amt, befürworte den Krieg von Anfang an als „Verteidigung der orthodoxen Welt gegen den ‚gottlosen Westen‘“, so Stoeckl. Laut Theologen Moga vertritt das russisch-orthodoxe Patriarchat seit mehr als 20 Jahren eine klassische (d. h. traditionelle) orthodoxe Linie.

Während die römisch-katholische Kirche mit dem Papst ein gesamtkirchliches Oberhaupt hat, ist der Patriarch von Konstantinopel „Erster unter Gleichen“ (Primus inter pares), kann aber nicht für alle orthodoxen Lokalkirchen sprechen.

Macht und Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche

Seit 1991 ist Patriarch Bartholomaios in dieser Position. Durch die griechische Diaspora in den USA und in Westeuropa sei Konstantinopel viel stärker mit Fragen der Moderne konfrontiert und versuche diesbezüglich eine gewisse Öffnung, so Moga. Die russisch-orthodoxe Kirche ist aber aufgrund ihrer Größe mächtig und einflussreich. Sie ist die an Gläubigen und Bischöfen stärkste orthodoxe Lokalkirche.

Wie tief die Spaltung ist, zeigte sich unter anderem 2016, als beim ersten Konzil mit allen orthodoxen Lokalkirchen seit mehr als 1.000 Jahren, vier Kirchen nicht teilnahmen – darunter die russisch-orthodoxe. Die Konflikte entzünden sich aber auch an der Haltung zur Ökumene, die Kyrill vehement ablehnt sowie auch daran, wer befugt ist, die Autokephalie (die kirchenrechtliche Unabhängigkeit von anderen Lokalkirchen) zu verleihen.

Patriarch Bartholomaios und Patriarch Kirill
Reuters/Marko Djurica
Zwischen dem griechisch-orthodoxen Ökumenischen Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios, (li.) und dem russisch-orthodoxen Patriarch Kyrill besteht ein kirchenpolitischer Machtkampf

Parteipolitik kostet Spiritualität

Im Gegensatz zur weitgehenden Trennung von Kirche und Staat in Westeuropa besteht in vielen osteuropäischen Ländern eine engere Beziehung der orthodoxen Nationalkirchen zur Politik – noch vor 20 Jahren habe man von einer „Symphonie“ gesprochen, so Moga. Klar sei, dass Kirchenführer, die sich parteipolitisch positionieren, ihre spirituelle Autorität riskierten.

Gleichzeitig dürften sie in Bezug auf gesellschaftliche Fragen nicht schweigen. „Kirchen müssen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit geben.“ Wesentlich sei hier aber die Unterscheidung zwischen einer ethisch-theologischen Standortbestimmung und parteipolitischer Rede.

Aber nicht nur innerhalb der Orthodoxie wird Einheit großgeschrieben. Auch politisch wird mit dem Konzept der „Russkij Mir“ – übersetzt: Russische Welt – Einheit verfolgt, was der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill ebenfalls unterstützt. Das Konzept leitet aus dem religiös einheitlichen Kulturraum – bestehend aus Russland, Ukraine und Belarus – eine politische Einheit unter russischer Führung ab.

Einzelne Gemeinden wenden sich ab

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 melden sich verschiedene orthodoxe Teilkirchen zu Wort – entweder mit Kritik am Moskauer Patriarchat (bis hin zur Lossagung) oder mit Unterstützungsbekundungen. Beispielsweise hatte bereits im März 2022 die russisch-orthodoxe Gemeinde in Amsterdam den dort zuständigen Vertreter des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel gebeten, in seine Diözese aufgenommen zu werden.

Orthodoxie

Der Begriff orthodox kommt von den altgriechischen Worten orthos, (aufrecht, richtig) und doxa (Verehrung, Glaube).

Im Mai sagte sich die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) vom Moskauer Patriarchat los, und im Baltikum würden auch einige Teilkirchen diesen Schritt erwägen, sagt Stoeckl. Andere, wie die orthodoxe Kirche in Moldawien, wollen im Verband mit dem Moskauer Patriarchat bleiben. Sie wurde von politischer Seite aufgefordert, sich zu distanzieren.

Auf Druck der estnischen Regierung hatte sich im Oktober der orthodoxe Metropolit des baltischen Landes von Äußerungen Kyrills zum Krieg in der Ukraine distanziert. Und Patriarch Bartholomaios legte Kyrill den Rücktritt nahe. Kurz vor Weihnachten bekräftigte der griechisch-orthodoxe Metropolit von Austria, Arsenios (Kardamakis), seine Kritik an Kyrill und dessen Kriegsunterstützung.

Mehrere orthodoxe Kirchen in der Ukraine

In der Ukraine selbst gehören orthodoxe Gläubige im Wesentlichen zwei verschiedenen Kirchen an: der 2019 gegründeten eigenständigen (autokephalen) und vom Konstantinopler Patriarchat anerkannten Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) (sie wird zwar nicht von allen anderen autokephalen Kirchen anerkannt, erhält aber Unterstützung der ukrainischen Regierung) und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK).

Die UOK hatte sich im Mai 2022 einseitig vom Moskauer Patriarchat losgesagt, und ihr Vorsteher, Metropolit Onufrij, hatte den Angriff Russlands auf die Ukraine kritisiert. Moskau sieht die UOK jedoch weiterhin als Teil des Moskauer Patriarchats.

Spielball der Politik

Das macht die UOK suspekt für die ukrainische Politik, sie glaubt nicht an deren Unabhängigkeit. Seit Dezember gab es wegen des Verdachts auf russische Sabotage Razzien am Hauptsitz der UOK in Kiew (im Höhlenkloster) durch den ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU. Neun Bischöfe und ein Diakon wurden mit Sanktionen belegt.

Ende Dezember verbot die ukrainische Regierung der UOK, in ihrer wichtigsten Kathedrale (Mariä Entschlafenskathedrale) Gottesdienste zu feiern. Nun ist ein Gesetz in Ausarbeitung, mit dem die UOK in der Ukraine ganz verboten werden kann. Im Jänner 2023 warf Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Ukraine eine beispiellose Verletzung der Religionsfreiheit vor. Einzelne EU-Staaten verhängten wiederum Sanktionen und Einreiseverbote gegen Patriarch Kyrill.

Spaltung in Ost- und Westkirchen

Die Gefahr, dass die Kirchen zum Spielball der Politik werden, sieht Moga als vorhanden, vor allem bei Kirchen, die in der jeweiligen Gesellschaft Mehrheitskirchen sind. Man dürfe aber nicht vergessen, dass die meisten orthodoxen Landeskirchen erst seit der Wende (1990) „im Eiltempo sozialethische Learnings“ nachzuholen hätten, für die die Westkirchen Jahrhunderte gebraucht haben.

Sonnenuntergang hinter der Spitze der Christ Erlöserkirche in Moskau
APA/AFP/Natalia Kolesnikowa
Am Krieg in der Ukraine scheiden sich viele Geister, im Grunde geht es aber um unterschiedliche Werte und Vorstellungen

Insgesamt gelte, dass die Entwicklungen, die im Westen seit der Aufklärung stattfanden, im orthodoxen Osten Europas nur mühsam und fragmentarisch Zugang gefunden haben, so der Theologe. Die Spaltung in Ost- und Westkirchen besteht seit dem Jahr 1054.

Einzelpositionen nicht verbindlich

Die orthodoxe Kirche versteht sich als Einheit, trotz unterschiedlicher Lokalkirchen und Sprachen. Sie wird als Gemeinschaft von selbständigen (autokephalen) Lokalkirchen verwaltet. Sie sei polyzentrisch und dadurch polyphon, schreibt Moga. Oberstes Entscheidungsgremium ist die Bischofssynode, nicht der jeweilige Patriarch oder ein anderes Kirchenoberhaupt. Daher könne die Position eines Patriarchen nicht automatisch mit der seiner ganzen Kirche gleichgesetzt werden, so der Theologe.

In der Orthodoxie können verbindliche Entscheidungen nur gemeinsam getroffen werden. Gerade mit verbindlichen Entscheidungen tue sich die Orthodoxie aber schwer, und so würden „manche Akteure in dem entstehenden Vakuum die Diskurshoheit beanspruchen“, schreibt Moga. Und das Moskauer Patriarchat pflege eine „problematische Interpretation des Staat-Kirche-Verhältnisses“. Sie agiere seit zwei Jahrzehnten als Global Player mit eigener kirchenpolitischer Agenda.

Orthodoxe Strukturen

Die unterschiedlichen Stimmen in der Orthodoxie sind strukturell bedingt. Alle kanonischen orthodoxen Kirchen haben die gleiche Glaubenslehre, die gleiche Liturgie, die gleiche Organisation und gleiche Kirchenstrukturen sowie das gleiche Kirchenrecht. Daher ortet Moga zwar kirchenpolitische Differenzen, nicht aber auf theologischer Ebene.

Es wird zwischen autokephalen und autonomen Kirchen unterschieden. Autokephale Kirchen sind rechtlich und geistlich völlig selbstständig und wählen ihr Oberhaupt selbst. Bei autonomen Kirchen reden andere bei deren Bestellungen mit. Nur Autokephale dürfen den Titel Patriarchat verwenden, daneben gibt es Erzbistümer und Metropolien.

14 Kirchen sind autokephal, davon neun Patriarchate. Zwei Kirchen sind noch nicht von allen anderen anerkannt. Weitere zwei gelten als autonom, und darüber hinaus gibt es einige Kirchen, die von den kanonischen Kirchen als nichtkanonisch betrachtet werden und ebenfalls nicht anerkannt sind.

Beim Krieg in der Ukraine prallen Werte und Welten aufeinander. Ohne ihn wäre die Kluft nicht so tief geworden, vermutet Stoeckl.