Leinentuch und Stroh
Getty Images/iStockphoto/Kara Gebhardt
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Weihnachten

Der Mythos von der Geburt im Stall

Die Geburt von Jesus Christus im Stall ist ein Bild von großer Wirkmacht. Historisch gesehen ist es zumindest fragwürdig. Aber auch in den Evangelien kommt das Wort „Stall“ nicht vor, sagt der Theologe Simone Paganini im Gespräch mit religion.ORF.at – ebenso wenig wie das Wort „Herberge“.

Die Herbergssuche ist aus der traditionellen Weihnachtsatmosphäre nicht wegzudenken und wird gern als Singspiel aufgeführt. Nur: „Der Stall kommt in den zwei Evangelien, die sich mit der Geburt Christi beschäftigen, Lukas und Matthäus, nirgends vor.“ Es geht um ein einziges Wort, das griechische „Katalyma“. Martin Luther übersetzte es in Lk 2,7 mit „Herberge“ – und das, so Paganini, sei nicht zutreffend. Luther habe in seiner Bibelübersetzung Worte und Bilder benutzt, die in seine Zeit passten: Die Herberge ist hierfür nur ein Beispiel.

Vielmehr habe es sich bei Katalyma um den Gästeraum eines gewöhnlichen Privathauses gehandelt, sehr wahrscheinlich das von Verwandten oder Bekannten Josefs. „Es gab damals gar keine Herbergen in einem heutigen Sinn, vor allem nicht in kleinen Dörfern, wie Bethlehem eines war“, sagt Paganini. Herbergen gab es nur in großen Städten und an wichtigen Straßen. Sie waren übel beleumundet und sicher nicht der Ort, an den ein frommer jüdischer Mann, wie Josef einer war, seine hochschwangere Frau gebracht hätte.

Mystische Geburt Christi von Sandro Botticelli, 1501
Public Domain
Die wirkmächtige Erzählung vom Stall zu Bethlehem („Mystische Geburt Christi“ von Sandro Botticelli, 1501)

Ein antikes Gästezimmer

Verbreitet war im Judäa des ersten Jahrhunderts vor und nach Christus das „Zweiraumhaus“: „Man suchte sich eine Höhle, und an die Höhle baute man ein Häuschen, meistens nicht aus Holz, sondern aus Stein, denn Holz gab es in Judäa kaum.“

In dem einen, größeren Raum fand das Leben der Großfamilie statt, auch die Tiere – kleinere wie Ziegen, keine Ochsen und Esel – konnten am Abend hereinkommen, an der Wand befand sich für sie eine Futterkrippe. „Und dann gab es das Katalyma“, erklärt der Theologe, „entweder war das die Höhle oder ein kleiner Raum daneben. Er war ein Lagerraum für alles, was die Familie besaß, und ein Gästezimmer, wenn Verwandte auf Besuch kamen.“

In der sicheren Futterkrippe

Der Bibelwissenschaftler, der zusammen mit der Theologin Claudia Paganini vor einigen Jahren einen „Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte“ in Buchform publiziert hat, skizziert die Weihnachtsgeschichte wie folgt: Wegen der in der Bibel erwähnten Volkszählung war dieses antike „Gästezimmer“ voll.

Der Theologe und Bibelwissenschaftler Simone Paganini
privat
Simone Paganini lehrt Biblische Theologie an der Uni Aachen

„Maria bekommt Wehen. Im Katalyma ist kein Platz – das ist es, was das Lukas-Evangelium sagt.“ Natürlich habe man Maria nicht in die Kälte hinausgeschickt, sondern sie in das große Zimmer gebracht, wo die Familie lebte. „Die Männer müssen raus, die Frauen kümmern sich um die Mutter, und als das Kind geboren ist, legen sie es an den sichersten Platz im Raum – in die Futterkrippe.“ Für damalige Verhältnisse eine ganz normale Geburt, so Paganini.

Normalerweise war eine solche Futterkrippe in die Wand hineingebaut, was sie zum sichersten Ort im Haus machte, und außerdem war sie mit Heu gefüllt, also warm und weich. „Man hat für Tiere in der Gegend keine Ställe gebaut: Sie waren draußen oder im Haus, um es mitzuwärmen“, sagt der Bibelwissenschaftler. All das sei kein Merkmal besonderer Ärmlichkeit gewesen.

Keine „arme“ heilige Familie

Die heilige Familie war auch nicht arm: Sie besaß in Nazareth ein Haus mit einem kleinen Betrieb, wo Josef arbeitete. Josef war auch kein „Zimmermann“ in einem modernen Sinn – zu Zeiten Luthers baute man in Deutschland mit Holz, daher übersetzte er „Tekton“ so, aber Josef war wahrscheinlich ein Handwerker, der mit Steinen und Metall arbeitete und Häuser errichtete oder daran arbeitete.

„Maria kam nach Bethlehem, um dort Steuern zu zahlen. Ihre Herkunftsfamilie besaß vermutlich dort einen Grund oder ein Haus – denn wenn es nur Josefs gewesen wäre, hätte er die hochschwangere Frau nicht mitgenommen.“ Frauen hatten damals keine rechtliche Stellung. Josef war der Vormund seiner Ehefrau, die mitkommen musste, weil ihre Besitztümer offensichtlich getrennt waren. „Aber die Tatsache, dass sie nach Bethlehem mitkommen musste, zeigt, dass es ihr Besitz oder der ihrer Herkunftsfamilie war.“ Maria und ihr Mann kamen also aus Galiläa im Norden nach Judäa im Süden, weil sie dort einen Besitz hatten, den sie steuerlich geltend machen mussten.

Evangelien keine genauen historischen Quellen

„Wir wissen heute nicht, wie dieses Steuersystem funktioniert hat, aber wir haben Briefe von Menschen, die erzählen, dass man von einem Bezirk zum nächsten gehen musste, um Steuern zu zahlen.“ Eine Volkszählung, wie sie Lk 2,1-2 beschreibt, hat im fraglichen Zeitraum so nicht stattgefunden. Aber natürlich sind die Evangelien keine genauen historischen Quellen, und das sollten und wollten sie auch nie sein, erinnert der Theologe.

Schrein in der Geburtskirche in Bethlehem
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Schrein am vermuteten Geburtsort von Jesus Christus (der goldene Stern am Boden) in der Geburtskirche in Bethlehem

Ganz generell sei es nötig zu bedenken, welchen Zweck die biblischen Geschichten verfolgten: „Sie wollen nicht historisch genau sein, sondern eine Geschichte transportieren, im Fall von Jesu Geburt eine Geschichte, die etwa 80 Jahre später geschrieben wurde.“ Die Vorstellung, man habe in einem kleinen jüdischen Dorf einer Hochschwangeren die Tür gewiesen, hält Paganini für absurd, das passe nicht in die Traditionen von Gastfreundschaft im damaligen Orient. Die Saga von den hartherzigen „Wirten“ habe in späteren Zeiten als antijüdische Propaganda Verwendung gefunden.

Gott als Kind „eine Revolution“

Aus der für die Verhältnisse „ganz normalen“ Geburt habe man später eine Tradition entstehen lassen, die der Identifikation dienen sollte: „Man brauchte Geschichten, die den Armen zeigten: Das ist unser Gott. Dann ist es die Geschichte des eines Gottes, der Mensch wird, also sich quasi erniedrigt. Dass ein Gott ein Kind wird, das war vollkommen neu: Für uns ist es heute, nach 2.000 Jahren, normal, aber damals war das eine Revolution.“

Buchhinweis

Simone und Claudia Paganini: Von wegen Heilige Nacht. Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte. Illustrationen von Esther Lanfermann. Gütersloher Verlagshaus, 157 Seiten.

Die traditionelle Religion erlebte im römischen Reich gerade einen Niedergang. „Religion war etwas für die Eliten. Der höchste Priester war der Kaiser, die höchsten religiösen Beamten die Senatoren in Rom und die Provinzverwalter. An Jupiter und die Mythen glaubte niemand mehr“, so der Theologe. In dieses Vakuum trat das Christentum: „Plötzlich gab es die Konzentration auf einen Menschen. Mit diesem Gott, der stirbt und aufersteht, sprach man gerade die Verlierer der Geschichte an – eine Religion für die einfachen Menschen, die Rede war von einer ‚Sklavenreligion‘.“

300 Jahre ohne Weihnachten

„Während der ersten 300 Jahre nach Christus gab es kein Weihnachten.“ Etwa im 4. Jahrhundert hätten die Leute begonnen, Fragen zu stellen. Die „Geburt in ärmlichen Verhältnissen“ half den einfachen Leuten, sich ihrem Gott nahe zu fühlen. Daraus entwickelte sich die Tradition mit der Herbergssuche – „das kommt aus dem Mittelalter, als es diese Orte – Herberge, Stall – dann tatsächlich auch gab“, erklärt der Bibelexperte.

Letztlich geht es bei der Tradition rund um Christi Geburt um Gefühle und darum, Nähe zu dieser Geschichte herzustellen, und um Identifikation, so Paganini: „Die Interpretation des Raums, in dem Jesus geboren wurde, als Stall hat das Ziel, zu sagen: Ja, dieser Gott ist genauso wie wir armen Menschen.“