Exil

Oberrabbiner rät Juden, Russland zu verlassen

Der im Exil lebende Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt warnt im Interview mit der britischen Zeitung „The Guardian“ (Onlineausgabe) davor, dass die jüdische Bevölkerung in Russland zum Sündenbock für die Not gemacht werden könnte, die durch den Krieg in der Ukraine verursacht wird. Er rät Jüdinnen und Juden, Russland zu verlassen.

Wie Goldschmidt gegenüber „The Guardian“ am Freitag sagte, habe Russland im Laufe der Geschichte immer wieder versucht die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken, wenn das politische System in Gefahr war. Der Antisemitismus in Russland würde zunehmen und Russland zu einer neuen Art von Sowjetunion zurückkehren, so Goldschmidt: „Deshalb glaube ich, dass die beste Option für russische Juden darin besteht, zu gehen“.

Im Juli war Goldschmidt als Oberrabbiner von Moskau zurückgetreten und ins Exil gegangen, nachdem er sich geweigert hatte, die russische Invasion in der Ukraine zu unterstützen. Wegen der repressiven Maßnahmen gegen Dissidenten wäre es ein Problem für die Gemeinde gewesen, wäre er als Oberrabbiner von Moskau weiter tätig gewesen, so Goldschmidt.

Zehntausende ausgewandert

Wie „The Guardian“ berichtete, sind Russlands Juden und Jüdinnen in den vergangenen 100 Jahren zu Zehntausenden ausgewandert, zuerst nach Europa und Amerika und in jüngerer Zeit nach Israel. Laut der Volkszählung von 1926 lebten in der damaligen Sowjetunion 2.672.000 Juden, davon 59 Prozent in der Ukraine. Heute würden nur noch etwa 165.000 Juden und Jüdinnen in der Russischen Föderation leben, bei einer Gesamtbevölkerung von 145 Millionen Menschen.

Goldschmidt gab an, dass seit Beginn des Krieges 25 bis 30 Prozent der Verbliebenen abgereist seien oder dies planen würden, obwohl es nur noch wenige Flüge ab Moskau gebe und sich der Preis für einen Flug nach Tel Aviv auf etwa das Vierfache erhöht habe. Im Juli schloss die russische Regierung die russische Niederlassung der Jewish Agency, einer gemeinnützigen Organisation, die die Einwanderung nach Israel fördert. Insgesamt wird angenommen, dass etwa 200.000 Russinnen und Russen aus dem Land geflohen sind, ein Exodus, der sich beschleunigte, als im September die Wehrpflicht eingeführt wurde.

Lange Geschichte des Antisemitismus

„Es gibt einen Teil der russischen Gesellschaft, der ‚Creacle‘ genannt wird, die kreative Klasse von Geschäfts- und Kulturführenden, Intellektuellen und Künstlern“, sagte Goldschmidt. „Und ich denke, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass ein großer Prozentsatz dieser Menschen Russland verlassen hat. Das schadet der russischen Gesellschaft jetzt und in Zukunft sehr.“ Weiter sagte Goldschmidt, dass ein großer Teil der jüdischen Gemeinde in der Ukraine ebenfalls abgereist sei. Nun seien sie als Flüchtlinge in Deutschland, Österreich und Rumänien.

Wie „The Guardian“ berichtet, hat die Ukraine eine lange Geschichte des Antisemitismus, von Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zu Massakern der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs. Das berüchtigtste davon war die Ermordung von 33.000 Juden und Jüdinnen in Babi Jar in Kiew im Jahr 1941. Angesichts dieser Geschichte sei es bemerkenswert, dass Wolodymyr Selenski, der kein Geheimnis aus seiner jüdischen Zugehörigkeit machte, mit mehr als 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, so Goldschmidt.

Ungewisse Zukunft für Juden und Jüdinnen

Diese Tatsache zeige auch die Unsinnigkeit Wladimir Putins Behauptung, die Ukraine werde von Neonazis regiert, so der Oberrabbiner: „Zeigen Sie mir ein Land, das sich im Griff der Nazis befindet und in dem die jüdische Gemeinde gedeiht.“ Goldschmidt wies aber auch darauf hin, dass er nicht wisse, wie jüdisch sich Selenski fühle: „Er spielt die jüdische Karte, um Israel um Hilfe zu bitten.“

Goldschmidt stellte „The Guardian“ gegenüber auch fest, dass Russlands Juden und Jüdinnen zwar einer ungewissen Zukunft gegenüberstehen würden, der Antisemitismus jedoch auch in den USA zunehmen würde. Und das obwohl die USA lange Zeit als „jüdisches Heiligtum“ galten.

Antisemitismus steigt auch in den USA

Im Jahr 2018 tötete ein Schütze elf Gläubige in einer Synagoge in Pittsburgh. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Anti-Defamation-League in den USA einen Rekord von 2.717 antisemitischen Vorfällen, die von Angriffen und Belästigungen bis hin zu Vandalismus reichten. „Viele Jahre lang glaubten die Juden in den USA, dass alles, was in Europa und anderen Ländern passiert, dort niemals passieren könnte“, sagte Goldschmidt.

Aber in den vergangenen drei Jahren habe es dort mehr Übergriffe auf Jüdinnen und Juden gegeben als in Europa. „Was sich ändert, ist, dass das politische System viel stärker polarisiert ist, aber auch der Diskurs durch die sozialen Medien auf den Kopf gestellt wurde“, so Goldschmidt: „Die Polarisierung, die wir sehen, hat Antisemitismus viel akzeptabler gemacht.“

„Kein jüdisches Problem“

Bürgermeister von 53 Städten aus 23 Ländern trafen sich Anfang dieses Monats in Athen, um zu diskutieren, wie der weltweite Anstieg des Antisemitismus bekämpft werden könnte. „Wir müssen diese Kräfte stoppen, die versuchen, Europa von innen heraus zu zerstören“, so der Oberrabbiner.

„Am Anfang, als es Angriffe auf jüdische Schulen wie die in Toulouse gab, dachten die Leute, es sei ein jüdisches Problem. Aber nach Charlie Hebdo, dem Anschlag in Nizza und auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin hat Europa verstanden, dass es ein europäisches Problem ist, kein jüdisches Problem. Das müssen diese Bürgermeister verstehen.“