Missbrauch

Kritische Stimmen nach Tod von Benedikt XVI.

Missbrauchsopfer werden sich aus Sicht der deutschen Initiative „Eckiger Tisch“ nicht gut an Papst Benedikt XVI. erinnern. Joseph Ratzinger habe „Schuld auf sich geladen“. Kritik an ihm kommt auch von Italiens Homosexuellen-Verbänden, habe homosexuellen Gläubigen „großes Leid zugefügt“.

„Den tausenden von Missbrauchsopfern seiner Kirche in aller Welt wird er in unguter Erinnerung bleiben als langjähriger Verantwortlicher jenes Systems, dem sie zum Opfer fielen“, sagte der Sprecher der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, der Deutschen Presse-Agentur – und übte deutliche Kritik am gestorbenen bayerischen Papst Emeritus.

„Joseph Ratzinger verkörperte die klerikale Herrschaft der Priesterschaft in der katholischen Kirche wie kein zweiter“, sagte Katsch. „Wie der Zauberlehrling, der nur das vermeintlich Gute will und dabei doch das Böse bewirkt, hat er seine Kirche immer weiter in die Krise gesteuert.“

„Großzügigkeit gegenüber Tätern“

Ratzinger, der diese Vorwürfe zu Lebzeiten bestritten hatte, habe als Erzbischof von München und Freising „Schuld auf sich geladen, als er als Bischof von München einen notorischen Missbrauchspriester wieder in den Pfarrdienst brachte, wo dieser Serientäter in der Folge jahrzehntelang weitere Kinder missbrauchte“, sagte Katsch mit Bezug auf den Wiederholungstäter Priester H., der im Mittelpunkt des Münchner Missbrauchsgutachtens stand. Katsch sah bei Ratzinger „Großzügigkeit gegenüber Tätern“: „Er zeigte große Milde selbst mit schlimmsten Verbrechern.“

Er trage die Verantwortung dafür, „dass Meldungen über sexualisierte Gewalt aus aller Welt im Vatikan abgelegt und zugleich vor der weltlichen Justiz versteckt wurden“, sagte Katsch. „Uneinsichtig bis zum Schluss erkannte er nicht die ungesunde vormoderne Sexualmoral seiner Kirche als Wurzel des Übels des Kindesmissbrauchs durch Priester, sondern schob die Verantwortung stattdessen der Gesellschaft zu“, heißt es weiter.

Gänswein verteidigt Ratzinger

In einem Nachruf für die „Bild“-Zeitung nahm der Privatsekretär von Benedikt XVI., Erzbischof Georg Gänswein, den Verstorbenen gegen Kritik in Schutz. Von seinen Reisen mit dem früheren Papst sei ihm besonders die Begegnung mit Missbrauchsopfern auf Malta 2010 unvergessen geblieben.

„Der Papst hat still zugehört und die aufgewühlten Herzen der Betroffenen getröstet. Mehr als Worte vermochten seine bloße Präsenz und seine Tränen, die er nicht unterdrücken konnte. Die Beschämung über das Geschehene führte zur Bekräftigung des Heiligen Vaters, alles zu tun, damit sich solche Fälle nicht wiederholen.“

„Berüchtigter Hirtenbrief“

Italienische Homosexuellenverbände haben den am Samstag verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI. indes wegen seiner Haltung gegenüber Schwulen und Lesben kritisiert. „Joseph Ratzinger war der Verfasser des berüchtigten Hirtenbriefs von 1986 gegen Homosexuelle, der bis heute in Kraft ist und der uns und vor allem gläubigen Homosexuellen großes Leid zugefügt hat“, betonte Franco Grillini, Ehrenpräsident des Schwulenverbands Arcigay und historischer Aktivist aus Bologna.

Ähnlich sieht die Lage der italienische Homosexuellenverband Gaynet. „Wir verlieren einen emeritierten Papst, der jahrelang gegen den Wandel der Kirche im Bereich der Menschen- und Bürgerrecht war“, so in einem Schreiben des Verbands.

Scharfe Kritik an Benedikt XVI.

„Wir werden uns an das Schreiben von 1986 erinnern, das jeden Dialog zwischen der Kirche und den Organisationen für Lesben und Schwule im Keim erstickt hat, seine Positionen gegen die Verwendung von Kondomen zur Bekämpfung von HIV in Afrika, seine heftige Opposition gegen Lebenspartnerschaften in Italien im Jahr 2007 und seine Angriffe auf homosexuelle Paare, die als Gefahr für den Frieden bezeichnet wurden“, hieß es weiter.

Der einzige positive Aspekt von Ratzingers Pontifikat sei, dass Benedikt 2013 zurückgetreten sei. „Dies zeigt, dass auch in der Kirche nichts unveränderlich ist, nicht einmal die Dogmen. Wir erwarten in Kürze eine Entwicklung des Katholizismus in Richtung der deutschen Kirche, die an vorderster Front bei der Rolle der Frau und der Anerkennung der Homosexualität ist“, hieß es.

Ratzinger als „widersprüchliche Figur“

Der verstorbene Papst Benedikt XVI. wird nach Überzeugung des Theologen Daniel Bogner als widersprüchliche Figur in Erinnerung bleiben. „Er ist derjenige, der viel für die Aufarbeitung sexueller Gewalt in der Kirche getan hat, und zugleich wird an seiner Person sichtbar, wie schwer es aus dem System einer monarchistischen Kirchenkultur heraus möglich ist, die Ursachen für Missbrauch an der Wurzel zu bearbeiten“, sagte Bogner am Samstag der Deutschen Presse-Agentur. Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der schweizerischen Universität Freiburg.

Für viele Menschen sei Benedikt so etwas wie ein spiritueller und dogmatischer Leuchtturm in Zeiten der Orientierungssuche gewesen, sagte Bogner. Zugleich werde er in die Kirchengeschichte eingehen als tragisches Beispiel des „Philosophenkönigtums“, das schon Platon beschrieben habe.

Gespür für Politische „fehlte“

„Mit Weisheit und Wahrheit alleine eine Kirche zu regieren, ist nur die halbe Miete, so könnte man sagen. Was dem Ratzinger-Papst fehlte, war ein Gespür für das Politische: dass Religionsgemeinschaften mit ihrem Wahrheitsanspruch auch Kinder ihrer Zeit sind, diesen Wahrheitsanspruch immer wieder neu übersetzen müssen, dass dabei Kompromisse und das tastende Suchen ein Qualitätskriterium für Wahrheit sein können und nicht als Verlust und Preisgabe gedeutet werden müssen.“