Russland

Ex-Oberrabbiner von Moskau: Viele Juden geflohen

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat der Exodus der jüdischen Bevölkerung aus Russland zugenommen. Das hat der im israelischen Exil lebende frühere Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, bei einem Besuch in Wien gesagt.

„Wir haben einen Anstieg von Antisemitismus vonseiten der Regierung gesehen.“ Goldschmidt hatte im vergangenen September die russischen Jüdinnen und Juden aufgerufen, „das Land zu verlassen, solange sie noch können“. Er befürchtet, dass es eines Tages unmöglich sein wird, aus Russland auszureisen, „da das Land zum sowjetischen Modell zurückkehrt“, sagte er im Gespräch mit der APA.

Gleichzeitig glaubt er nicht, dass das jüdische Leben in Russland ausstirbt, „aber es wird kleiner und ärmer werden“. Immer weniger Menschen könnten nun das Gemeindeleben finanziell unterstützen, weil viele etwa durch den Abzug zahlreicher internationaler Firmen ihre Arbeit verloren hätten.

„Etwa 80.000 Juden ausgereist“

„Wir schätzen, dass etwa 80.000 Juden aus Russland ausgereist sind“, davon rund 50.000 nach Israel. Da russische Staatsbürger nicht in die Länder West- und Mitteleuropas einreisen dürfen, hätten viele auch den Weg nach Dubai, Istanbul oder in frühere Sowjetrepubliken wie Armenien, Aserbaidschan oder Georgien genommen.

Der ehemalige Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt
Reuters/Heinz-Peter Bader
Pinchas Goldschmidt schätzt, dass bereits etwa 80.000 Jüdinnen und Juden aus Russland geflohen sind

Der in Zürich geborene orthodoxe jüdische Rabbiner Goldschmidt war von 1993 bis 2022 Oberrabbiner von Moskau. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatten er und seine Frau beschlossen, im Ausland zu bleiben, um den Krieg nicht öffentlich unterstützen zu müssen.

Später trat er auch von seinem Amt als Oberrabbiner zurück und lebt seitdem in Israel. „Die russische Regierung erwartet von religiösen Führern, den Krieg zu unterstützen“, sagte er. „Viele haben das getan.“ Insbesondere zu Beginn des Krieges „war der Druck sehr groß, sich für den Krieg auszusprechen“, berichtete er.

Wichtig, dass Israel „demokratisch bleibt“

Bezüglich der heftigen innerisraelischen Proteste gegen den von der israelischen Regierung geplanten Justizumbau verwies Goldschmidt auf seinen eigenen Hintergrund im immer autoritärer gewordenen Russland: „Wir kennen den Preis der Demokratie – und auch ihres Fehlens. Was passiert, wenn ein Land aufhört, demokratisch zu sein.“

Es sei ihm daher wichtig, dass Israel „demokratisch bleibt, mit einer unabhängigen Justiz“. Seiner Meinung nach „gibt es einen Platz für Reformen, das muss aber im Konsens geschehen und nicht so, wie es gemacht wurde“.

Israels Politik „pro-ukrainischer geworden“

In Bezug auf die Unterstützung der Ukraine tue der derzeitige israelische Premier Benjamin Netanyahu mehr als die Vorgängerregierung, so Goldschmidt. Netanyahu „spricht weniger, tut aber mehr“. Die israelische Politik sei seit Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 „pro-ukrainischer geworden“, meinte er.

Gleichzeitig müsse Israel aber auch ein funktionierendes Verhältnis mit Russland aufrechterhalten, einerseits wegen Syrien, andererseits wegen der jüdischen Gemeinschaft in Russland: „Israel hat ein Problem. Es hat eine nördliche Grenze mit Syrien – ein Land, das zum Teil von Russland kontrolliert wird.“

Es stehe daher im Interesse Israels, angesichts der Waffentransporte von mit dem Iran verbündeten Gruppen in Syrien ein gewisses Einvernehmen mit Moskau aufrechtzuerhalten. Auch das Verbotsverfahren in Moskau gegen die Jewish Agency for Israel (Sochnut) – jene Organisation, die weltweit bei der Auswanderung von Juden nach Israel behilflich ist – hänge maßgeblich vom Verhältnis Russland-Israel ab. Derzeit werde das Gerichtsverfahren in Russland zum Verbot „alle zwei Monate verschoben“.

Wien-Besuch zu Rabbiner-Ehefrauen-Treffen

Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) ist, begleitet ein Treffen der Ehefrauen orthodoxer Rabbiner (European Rebbetzin Convention), das dieser Tage in Wien stattfindet. Zu der Konferenz sind rund 250 Rabbiner-Frauen aus 35 europäischen Ländern angereist. „Die Bedeutung der Frau im orthodoxen Judentum ist extrem bedeutsam“, unterstrich er.

„Die Rolle der Rebbetzin (Ehefrau eines Rabbiners, Anm.) für eine Gemeinde ist entscheidend. Sie unterrichtet, sie berät Familien – sie erfüllt eine Rolle, die nur sie erfüllen kann.“ Auch die Konferenz in Wien habe zum Ziel, Rabbiner-Frauen zu inspirieren, „ihr Potenzial zu entfalten“. Man arbeite auch darauf hin, dass in Zukunft orthodoxe Gemeinden nicht nur einen Rabbiner, sondern ein Rabbiner-Ehepaar anstellen und beiden Eheleuten ein Gehalt zahlen, berichtete er.