Gemeinde während des Karfreitagsgottesdienstes

ORF

„Stille Wunden“

Karfreitagsgottesdienst live aus der Evangelischen Lukaskirche in Bad Hall im oberösterreichischen Traunviertel. Mit der Gemeinde feierte Pfarrer Oliver Gross.

Manche Dinge sehen wir nicht, weil sie nicht gesehen werden wollen. Wunden aus ganz verschiedenen Lebenserfahrungen, die still vor sich hinbluten. Anlässlich des Karfreitags lud Pfarrer Oliver Gross ein, diese stillen Wunden im Gebet und im gemeinsamen Feiern vor Gott zu bringen. Gibt es Hoffnung auf Heilung?

Durch das Leiden des Todes gekrönt

Lesung: Markus 15

Die Soldaten brachten Jesus in den Innenhof des Palastes, der dem Statthalter als Amtssitz diente, und riefen die ganze Mannschaft zusammen. Sie hängten ihm einen purpurfarbenen Mantel um, flochten eine Krone aus Dornenzweigen und setzten sie ihm auf. Dann fingen sie an ihn zu grüßen: „Hoch lebe der König der Juden!“ Sie schlugen ihn mit einem Stock auf den Kopf, spuckten ihn an, knieten nieder und huldigten ihm wie einem König. Nachdem sie so ihren Spott mit ihm getrieben hatten, nahmen sie ihm den Mantel wieder ab, zogen ihm seine Kleider an und führten ihn hinaus, um ihn ans Kreuz zu nageln.

Musik

Zu Gottes Ehre

Breite segnend deine Hände
über Mensch und Erde aus

O Haupt voll Blut und Wunden

I still haven’t found

Who am I?

Kyrie eleison

Korn, das in die Erde,
in den Tod versinkt

Christe, du Lamm Gottes

Meinem Gott gehört die Welt

Bläserquintett der
Stadtkapelle Bad Hall

Band der Lukaskirche

Cajon: Daniel Ecklbauer

Flöte: Heidrun Schuster

Orgel: Theresa Klinglmayr

Sie zwangen einen Mann, der gerade vorbeiging, für Jesus das Kreuz zu tragen. Es war Simon aus Zyrene, der Vater von Alexander und Rufus, der gerade vom Feld in die Stadt zurückkam. Sie brachten Jesus an die Stelle, die Golgota heißt, das bedeutet Schädel-Platz. Dort wollten sie ihm Wein mit einem betäubenden Zusatz zu trinken geben, aber Jesus nahm nichts davon.

Sie nagelten ihn ans Kreuz und verteilten dann untereinander seine Kleider. Durch das Los bestimmten sie, was jeder bekommen sollte. Es war neun Uhr morgens, als sie ihn kreuzigten. Als Grund für seine Hinrichtung hatte man auf ein Schild geschrieben: Der ‚König‘ der Juden!

Zugleich mit Jesus kreuzigten sie zwei Verbrecher, einen links und einen rechts von ihm. Die Leute, die vorbeikamen, schüttelten den Kopf und verhöhnten Jesus: „Ha! Du wolltest den Tempel niederreißen und in drei Tagen einen neuen bauen! Dann befrei dich doch, komm herunter vom Kreuz!“ Genauso machten sich die führenden Priester und die Gesetzeslehrer über ihn lustig. „Anderen hat er geholfen“ spotteten sie, „aber sich selbst kann er nicht helfen. Wenn er der versprochene Retter ist, der König von Israel, dann soll er doch jetzt vom Kreuz herunterkommen! Wenn wir das sehen, werden wir ihm glauben.“ Auch die beiden, die mit ihm gekreuzigt waren, beschimpften ihn.

Um zwölf Uhr mittags verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land. Das dauerte bis um drei Uhr. Gegen drei Uhr schrie Jesus: „Eloï, eloï, lema sabachtani?“, das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Den Tod für alle

Predigttext: Hebräerbrief

Den aber, der eine kleine Zeit niedriger gewesen ist als die Engel, Jesus, sehen wir durch das Leiden des Todes gekrönt mit Preis und Ehre. Denn durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken.

Jedes Kreuz ein Wendepunkt

Predigt
Es gibt so viele Dinge, die wir nicht sehen. Nicht jeder muss meine Wunden und Verletzungen kennen. Manche Wunden bluten still. Erschöpfung, Süchte, heimliche Probleme und Depressionen - mehr denn je gilt: Es ist gut, dass wir noch nicht ganz gläsernen Menschen sind.

Pfarrer Gross

ORF

Pfarrer Oliver Gross

Allerdings: Manche Wunden bluten deswegen still, weil niemand sie sehen will. Für die Leidenden besonders schmerzhaft. Besser schweigen, sagen die anderen.
Im 2. Buch Samuel findet sich eine solche äußerst unschöne Geschichte: Tamar zerriss das Ärmelkleid, das sie anhatte, und lief schreiend davon. Und ihr Bruder sagte: „Hat Ammon dir etwas getan? Sprich nicht darüber, er ist schließlich dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht zu Herzen.“
„Nimm dir die Sache nicht zu Herzen! Komm, er ist schließlich dein Bruder!“ - Manche Wunden haben gefälligst still zu bluten. Und wehe, du kannst das nicht mit dir selbst ausmachen! Nur stille Opfer sind gute Opfer. Hinterfrag das System nicht! Die Zeit heilt alle Wunden. Heißt es. Heilt die Zeit alle Wunden?

Die Klagepsalmen sind Notrufe von Verzweifelten, von Ertrinkenden. So wie es zuvor hieß „Ich zerfließe. Ich zerfalle. Mein Herz schmilzt.“ Und wenn niemand sonst es hört - zumindest Gott soll es hören: „Und du lässt das alles zu! - Jetzt bleib nicht fern! - Warum hilfst du nicht, wenn ich schreie?“ Und wenn Gott anschreien die einzige Therapie ist: Zeit allein heilt nicht alle Wunden. Manche Wunden sind lebensgefährlich. Man kann daran sterben – egal, ob es offene oder stille sind. Manchmal reicht die Zeit als Therapeutin nicht aus. Und manchmal reicht der Alltag nicht mehr aus, um gesund zu werden.

Manchmal braucht es einen geschützten Raum, um Wunden versorgen zu können, um sie überhaupt erst wahrnehmen und benennen zu können. Für viele Menschen ist Bad Hall zu so einem geschützten Raum geworden. Für Menschen, die auf Kur herkommen, für Menschen, die Gäste sind in unseren neuen psycho-sozialen Einrichtungen. Und die Gründer unserer kleinen Evangelischen Pfarrgemeinde und die Erbauer dieser Lukaskirche haben das erkannt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht, sagt Jesus.

Gott als unser großer Therapeut, als Helfer und Arzt, der, der dort noch helfen kann, wo andere aus-therapiert haben, der unsere Hilfe ist in der dunkelsten Stunde, in der Stunde Null.
Unsere Gemeindegründer haben das gesehen. Und weil es eine altkirchliche Tradition gibt, nach der Lukas, der Evangelist, ein Arzt gewesen sein soll, haben sie diese Kirche Lukaskirche genannt. Ein Heilungsangebot am Kurort. Ein geschützter Raum, um heil werden zu können.

Die Worte der Heilung sind dabei Gottes Wort, das uns aus der Bibel entgegenkommt. Und hier beginnt mein Nachgrübeln: Ich mache es fest an zwei Bibelstellen. Am Bericht des Markus über die Kreuzigung Jesu. Und in diesem sperrigen Wort aus dem Hebräerbrief, das ich der Predigt voran gestellt habe. Beides sind Worte, die für den Karfreitag offiziell nicht vorgesehen sind. Sie finden sich nicht auf der Liste vorgeschlagener Texte.
Gut, das Wort aus dem Hebräerbrief ist vielleicht allzu sperrig. Aber ein ganzer Evangelienbericht? Man sollte meinen, bei sechs möglichen, vorgeschlagenen Predigttexten sollten sich doch vier Evangelien ausgehen. Aber, nein, Markus fehlt am Karfreitag vollkommen.
Und ich habe einen Verdacht, warum das so ist: Markus ist zu dicht dran an der Kreuzigung. Bei ihm scheint zu wenig Osterlicht hindurch zu leuchten. Er entzieht sich der einfachen Verkündigung, wenn Jesus klagt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Gehört zu den Dingen, die wir am Karfreitag nicht sehen sollen, auch der Evangelist Markus?
Nein, er bietet sich nicht an für eine salbungsvolle Predigt. Er ist zu dicht dran am Schmerz, an der Verzweiflung. Es geht in der Erzählung des Markus um viel - auch um Folter, um den recht konkreten Missbrauch eines menschlichen Körpers. Und noch schlimmer: Er deutet an, sogar Jesus war gottverlassen. Und von hier gehen Linien zu Psalm 22 und zum Hebräerbrief. Aber davon später. Wir bleiben einmal bei Markus. Bei der konkreten Schilderung des Elends.

Wir gehen auf Ostern zu. Und das ist auch gut so. Ohne Ostern wäre jeder Karfreitag sinnlos. Ohne Ostern wäre auch dieser Markus-Text unaushaltbar. Und trotzdem: Heute ist Karfreitag. Die schnelle Abkürzung zum Ostertag tut nicht gut. Und wir springen nicht gleich zum plärrenden Halleluja. Wir bleiben bei Kummer, Verletzung und Verzweiflung. Trauer braucht Zeit. Schmerz braucht Zeit. Keine voreilige Flucht. Wir bleiben bei unseren Wunden und blicken auf die von Jesus. Wie unverstanden hat er sich gefühlt? Wo waren seine Freunde, wie er sie gebraucht hat?

Wie nah er uns in all dem war! Weit unter die Engel geordnet. Mitten in Leid, Vergänglichkeit, Verfall und Gewalt ist er uns ganz nah. Kein Wunder, dass Psalm 22 sein Psalm war. Hier sind wir ganz dicht bei Jesus – bei allem, was er war und gesagt hat. Und unter seinem Kreuz finden selbst Opfer und Täter zusammen.

Und damit sind wir beim nächsten, liebe Gemeinde, ich habe euch bislang angesprochen als Opfer: Als die, die Wunden tragen, als die, die Schmerzen fühlen. Aber sind wir alle nur Opfer? So würden wir uns wohl gerne sehen, alle als arme Hascherl. Aber sind wir nicht auch die, die anderen Wunden zugefügt haben? Gerade und obwohl wir Christinnen und Christen sind. Sind wir nur die, die Schmerzen fühlen? Oder haben wir nicht Schmerz über andere gebracht?

Wir sind heute, liebe Gemeinde in der Kirche, online oder im Fernsehen, eine Gemeinschaft von Verletzten und Verletzern. Wir sind nicht nur Opfer, sondern auch Täter! Ja - du, ich selbst, wir sind vielleicht beides zugleich. Und darum brauchen wir alle den Blick auf das Kreuz Jesu. Jesus sollte für alle den Tod schmecken. Wir sind bei Gott keine Gemeinschaft von Unschuldigen. Wir sind verletzte Verletzer. Wir sind schwer erlösungsbedürftig.

Und das alles hat unter dem Kreuz Jesu Platz und muss Platz haben: Unsere Wunden, offene und stille, erlittene und zugefügte. Denn auch der, der anderen Wunden zufügt, verwundet sich selbst.
Heute, an diesem Tag, fließen alle Wunden in eine. So wie es in einem Lied von U2 heißt. Als irische Rockgruppe stellt U2 gerne religiöse Bezüge her. Und im Sinnzusammenhang von Karfreitag heißt es einmal:
I believe in the kingdom come
Then all the colors will bleed into one
But yes - I’m still running.
Ich glaube an Gottes kommende Herrschaft,
wo alle Farben in eine bluten.
Aber ja - noch bin ich unterwegs.

Liebe Gemeinde, in Jesu Wunden sehen wir unsere eigenen Wunden, erlittene und zugefügte. Im Klagepsalm und in der Klage Jesu vom Kreuz erklingen unsere Wunden, die sonst keine Stimme hätten. Was sonst still bluten würde, bekommt hier einen Ausdruck. Aber gleichzeitig passiert noch viel mehr als das, und hier kommt unser geheimnisvoller Vers aus dem Hebräerbrief ins Spiel. In Wahrheit wissen wir nicht genau, was im griechischen Original hier gestanden ist. Martin Luther übersetzt: „Den aber, der eine kleine Zeit niedriger gewesen ist als die Engel, Jesus, sehen wir durch das Leiden des Todes gekrönt mit Preis und Ehre; denn durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken.“

Es ist eine der ganz wenigen Stellen des Neuen Testaments, wo wir im Dunklen tappen. Es gibt vom letzten Satz zwei überlieferte Lesarten. Auf Griechisch ist da nur ein Buchstabe Unterschied. Das bedeutet entweder „Jesus sollte durch Gottes Gnade den Tod schmecken.“ oder „Jesus sollte ohne Gott den Tod schmecken.“ Beides wäre inhaltlich verständlich. Und beides ist durch die alten Schriften belegt. Und was für ein Unterschied in der Bedeutung! Aber genau in dieser Spannung befindet sich der Karfreitag. Und jede/r von uns.

Wenn ich im Elend bin und verlassen, bin ich dann auch von Gott verlassen, und das war´s dann? Oder kann Gottes Gnade noch im Dunkelsten sichtbar werden? Ohne Gott? Oder durch Gottes Gnade? Das ist die Frage. Ein seltsames Kippbild tut sich da auf. Beide Varianten wären gut biblisch und beide gut aus anderen Teilen des Neuen Testaments zu belegen: Ja, Jesus fühlte sich von Gott verlassen – da am Kreuz. Nicht umsonst betet er Psalm 22: Eli, eli, lama asabtani. (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) Und zugleich gilt: Diese Perversion verdreht sich später zu etwas unerwartet Heilsamem. Aus dem Endpunkt wird ein Wendepunkt werden. Aus der absoluten Gottverlassenheit erwächst neue Hoffnung.

Liebe Gemeinde, ich will heute nicht billig sein. Es geht mir nicht um billige Vertröstung. Es geht mir nicht um rosafarbene Erbauungssprüche. Ganz im Gegenteil. Ich will nicht sagen: Alles Gottes Gnade, und jetzt seid ruhig! Das ist billiger Erbauungs-Plüsch und Motivations-Nonsense. Manche Krisen bringen einen einfach um und Punkt. Manche Wunden können schlichtweg tödlich sein. Für unser Leben. Für unsere Beziehungen. Auch für unsere Beziehung zu Gott.

Aber das will ich uns allen heute sagen, unter dem Kreuz Jesu: Es gibt Hoffnung. Für Opfer und Täter. Das Bild kann kippen. Aus dem tiefsten Punkt der Gottverlassenheit kann Gott neues Leben erwecken. Manche Christin, mancher Christ durfte erleben, dass aus einem Ende ein Anfang wurde und aus der Verletzung – und es war schwer genug – ein neuer Weg.
Automatismus gibt es hier keinen. Aber einen liebenden Gott, der Arzt sein will für viele Wunden.

Und das Kreuz, an dem Jesus hängt, ist der Punkt, wo das Bild kippt. Von einem Punkt tiefster Dunkelheit und Verletzung zu einem Wendepunkt, der sich in der Ostergeschichte erst zeigen wird. Kürzlich bin ich durch Bad Hall gegangen. Auf einmal habe ich Kreuze gesehen, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Ein besonders großes steht (natürlich, werdet ihr sagen) am Friedhof. Ich habe es, seltsam genug, nie bewusst wahrgenommen. Obwohl ich dutzende Male dort war.

Jedes Kreuz ist Erinnerung an einen Umkehrpunkt. Es bezeichnet den Punkt, wo unsere Schmerzen zum Ende kommen. Und es bezeichnet den Punkt, wo der Tod begonnen hat zu fliehen. Jedes christliche Kreuz bezeichnet einen Wendepunkt. Für Opfer und Täter. Für uns alle. Es ist ein Kippbild: erst ohne Gott, dann durch Gottes Gnade.

Da bin ich unter dem Kreuz.
Mit Verletzungen, die ich mein Leben lang mit mir trage.
Da bin ich: ohne Gott – und durch Gottes Gnade.
Ihr alle unter dem Kreuz: Gottes Gnade möge euch treffen.

Evangelische Lukaskirche Bad Hall außen

ORF

Lukaskirche Bad Hall

Die Pfarre
Schon zur Zeit des Toleranzpatents Josephs II. lebten in Bad Hall evangelische Christen. Zunächst mit einer Predigtstation, dann als Tochtergemeinde von Neukematen und ab 1978 als selbstständige Pfarre.
Viele der Gemeindeglieder waren „Volksdeutsche Heimatvertriebene“, die am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Österreich migriert waren, vor allem Siebenbürger Sachsen aus dem Raum Bistritz. So wurde der Gemeindesaal bald zu klein und schließlich von 1964 bis 1968 die Lukaskirche erbaut.

Aktuelles in der Gemeinde

www.evang-badhall.at

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Redaktion und Bildregie

Thomas Bogensberger