jubelnde Menschen am Appellplatz des Konzentrationslagers Mauthausen im Mai 1945 am Tag ihrer Befreiung

Archiv Mauthausen Komitee Österreich

Befreiungsfeier mit Ökumenischem Gottesdienst und jüdischer Gedenkfeier in Mauthausen

70 Jahre nach 1945 übertrug der ORF die weltweit größte und internationale Feier zum Jubiläum des Kriegsendes in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Dazu gehörten auch ein ökumenischer Gottesdienst mit Metropolit Arsenios Kardamakis, Caritas-Präsident Michael Landau und dem Evangelischen Bischof Michael Bünker sowie eine jüdische Gedenkfeier mit Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg.

Die Überlebenden des Konzentrationslagers und seiner 49 Außenlager wurden Anfang Mai 1945 von US-Truppen befreit. In der Reihe „70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs“ gestaltete der ORF fünf Stunden Information und Gespräch rund um die überkonfessionellen Feiern und Gedenkkundgebungen. Durch den Vormittag führten Stefan Gehrer, Christoph Riedl-Daser, Johannes Karner, Helma Poschner und Gregor Waltl.

Steinbruch und Zwangsarbeit

Ökumenischer Wortgottesdienst

Ökumenischer Wortgottesdienst mit Audiodeskription

Auf eigens dafür vorgesehenen Tonspuren bot der ORF eine akustische Bildbeschreibung für sehbehinderte Menschen. Hier kommentierten Johannes Karner und Gregor Waltl.

In der Kapelle der Gedenkstätte feierten der griechisch-orthodoxe Metropolit von Austria und Exarch für Ungarn und Mitteleuropa Arsenios Kardamakis, Michael Landau, der Präsident der Caritas Österreich, sowie Michael Bünker, der Bischof der Evangelischen Kirche A.B., gemeinsam Gottesdienst.

Der Herr hörte unser Schreien

1. Lesung: 5 Moses 26

Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.

MUSIK

Herr, du bist mein Leben

In der Enge unsres Denkens

Der Herr ist mein Hirte

Der Herr ist mein Licht und mein Heil

Alfred Hochedlinger:
Vater unser

Ich will dich rühmen, Herr

Musica Viva

Chor der Pfarre Mauthausen

Musikalische Gesamtleitung:
Alfred Hochedlinger

Wachsam sein

2. Lesung: Markus 13

Seht euch also vor, und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug alle Verantwortung seinen Dienern, jedem eine bestimmte Aufgabe: dem Türsteher befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!

Unser Auftrag

Predigt von Bischof Michael Bünker

Liebe Schwestern und Brüder, als ich zum ersten Mal hier in Mauthausen war, es war in der Mitte der 70er Jahre, war ich auch im Steinbruch. Allein bin ich die Stiege hinuntergestiegen und stand dann einige Zeit zwischen den hohen, glatten Wänden am Rand der Wasserteiche, die sich dort gebildet haben. Kein Mensch weit und breit. Es war totenstill. Kaum konnte ich mir den Lärm vorstellen, der im Steinbruch Wiener Graben zwischen 1938 und 1945 geherrscht haben muss. Arbeitslärm und Geschrei, Schüsse und Hundegebell. Und ganz unvorstellbar die Qualen der erschöpften Häftlinge, die sich Abend für Abend die tödlich steile Stiege wieder hinaufgequält haben, viele mit einem schweren Stein am Rücken. Mauthausen und der Steinbruch gehören zusammen, so wie Gusen, der Loibl, die Hinterbrühl und viele andere Orte. Immer wieder die Steine.

Die Frage, ob das irgendeinen wirtschaftlichen Nutzen gehabt hat oder nicht, ist ganz zweitrangig. Als wollten die Nazis schlicht und einfach demonstrieren, wie weich und zerbrechlich menschliche Körper sind, die sich an den Steinen stoßen, die unter der Last der Steine zusammenbrechen oder von Steinen zerschlagen und zerschmettert werden und wie steinhart Menschen, ganz normale Menschen sein können, wenn es die politischen Verhältnisse zulassen und ganz bewusst fördern und verlangen. Hier wurden systematisch Menschen durch Zwangsarbeit im Steinbruch vernichtet. der biblischen Tradition wird die Erinnerung an Steinbrüche und Zwangsarbeit aufbewahrt. Die Israeliten, die in Ägypten zu solcher Zwangsarbeit versklavt waren, sind daraus befreit worden. Der Exodus aus Ägypten, der Auszug aus der Sklaverei bildet den Kern der biblischen Befreiungserfahrungen. Im Judentum gedenkt man jedes Jahr beim Passafest des Auszugs in die Freiheit.

Jede Generation ruft sich diese Erfahrung aufs Neue in die Gegenwart. Dieses vergegenwärtigende Erinnern, das biblische Gedenken, ist immer eine Verpflichtung für heute. Wir Christinnen und Christen stehen in dieser Tradition, wenn wir in eben solchem vergegenwärtigenden Erinnern an den zerschlagenen und zerbrochenen Leib und das vergossene Blut Jesu denken. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Heute heißt das, gegen jede Form von Zwangsarbeit einzutreten, etwa gegen die Zustände in den Textilfabriken Asiens oder die Kinderarbeit in den Ländern des Südens oder den Frauenhandel und die Prostitution bei uns. Heute heißt das auch allen Kräften zu widerstehen, die solche steinerne Verhältnisse, Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus in Kauf nehmen oder sogar bewusst herstellen. Das Gedenken gebietet, die Opfer niemals zu vergessen und niemals einen Schlussstrich zu ziehen. Gut, dass auch noch über 90jährige vor Gericht gestellt werden, gut, wenn wir uns Klarheit verschaffen über die Beteiligung der Menschen damals, oft auch bis in die eigenen Familien hinein.

Im Lukasevangelium wird erzählt, dass die Jünger Jesus, dem Befreier, lauthals zugejubelt haben. Sie freuen sich über den, der den Leidenden, den Barmherzigen, den Friedfertigen und Sanftmütigen, denen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, die besondere Zuwendung und Solidarität Gottes zugesagt hat. Selig seid ihr! Das stört die Hüter der Ordnung. Sag ihnen, sie sollen schweigen, verlangen sie von Jesus. Er sagt darauf: Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien. Vor vierzig Jahren habe ich hier im Steinbruch die Steine schreien gehört. So sehr steckt mir die Totenstille noch in den Knochen. Die Botschaft der Freiheit, der Menschenwürde und der Menschenrechte kann und darf nicht zum Schweigen gebracht werden. Sie setzt sich durch. Unwiderstehlich. Dafür stehen wir, das ist unser Auftrag.

Heute gegen Unrecht eintreten

Predigt von Michael Landau

Wer an diese Stelle tritt, weiß, es ist zuerst ein Ort der Stille, ein Platz des Schweigens. Schweigen im Angesicht des Leids – der Frauen, Männer, Kinder, die hier eingetreten, die Gewand, Namen, Geschichte, Leben abgelegt haben. Schweigen, weil die Entsetzlichkeiten der Shoah niemals angemessen in Worte zu bringen sind. Schweigen, weil das Ungeheure, das hier Menschen Menschen angetan haben, auch heute noch denen, die den Ort betreten, die Stimme verschlägt. Es ist ein Grauen, an dem Worte zerschellen, weil die Schreie von einst heute noch allgegenwärtig sind.

Und auch die Kirchen müssen sich an diesem Ort immer wieder neu der Gewissenserforschung stellen. Wenn wir heute gemeinsam der Opfer gedenken, werden wir hinzufügen müssen: Auch die Kirchen waren nicht hellhörig genug für die Stimmen der Verzweifelten. Dieser Ort war möglich, weil zu wenige den Mut zum Widerstand hatten, weil auch Christen zugeschaut, zugestimmt, mitgetan haben. Joachim Gauck, der deutsche Bundespräsident und evangelische Christ, hat 70 Jahre nach Auschwitz eingemahnt: „Der Holocaust gehört zur Geschichte des Landes. Ihn zu erinnern bleibt Sache aller Bürgerinnen und Bürger.“ Und er hat hinzugefügt: „Aus der Erinnerung aber erwächst der Auftrag, Mitmenschlichkeit zu bewahren und die Menschenrechte zu schützen.“

All das trifft auch für Österreich zu, auf die Generation der Nachgeborenen und ihrer Kinder. So erinnert uns das alljährliche Gedenken an diesem Ort an das wohl dunkelste Kapitel österreichischer Geschichte. Und es verbindet sich damit die Pflicht zur Reflexion, warum dies alles geschehen konnte, vor allem aber der bleibende Auftrag, den Ruf wachzuhalten: „Niemals wieder!“ und für die Rechte eines jeden Menschen einzutreten – bedingungslos und überall! Es gibt kein Leid in der Welt, das uns gar nichts angeht! „Auschwitz“ als Symbol für die systematische Ermordung der europäischen Juden, um Bundespräsident Heinz Fischer zu zitieren, war kein Betriebsunfall, sondern sorgfältig vorbereiteter und penibel durchgeführter millionenfacher Mord. Und auch das ehemalige KZ Mauthausen hat auf Vernichtung gezielt – aufgrund von Abstammung, Glaube, politischer Gesinnung oder sexueller Orientierung. Willkürlich und brutal.

Das aber verbietet jede Schlussstrichmentalität. Was geschehen ist, lässt sich nicht zu den Akten legen. Um der Toten und um der Lebenden willen. „Arbeit macht frei!“ So lautete der zynische Slogan über den Toren der Vernichtungslager. Und auch hier, an diesem Ort systematischer, geplanter Tötung, Ermordung sind tausende Menschen durch Zwangsarbeit gequält, misshandelt, gefoltert und um ihr Leben gebracht worden. Es ist ein Ort, an dem die Steine schreien, an dem einem, wie Bischof Bünker es bewegend geschildert hat, die Totenstille in die Knochen fährt.

Die Schuld der Damaligen ist den Heutigen nicht anzulasten. Es gibt keine kollektive Schuld. Aber die Frage ist zu stellen, wie es um die Verantwortung der Nachgekommenen, wie es um unser aller Verantwortung im Hier und Heute bestellt ist. Erinnerung verstellt niemals den Blick in Gegenwart und Zukunft. Und nur wer niemals vergisst, weiß um die Brüchigkeit von Leben und Existenz. Des Einzelnen und der Gesellschaft als ganzer. Wenn wir Zukunft menschlich gestalten möchte, müssen wir den Dialog mit der Vergangenheit am Leben halten. Es geht niemals um Vergleiche, weil nicht verglichen werden kann, was nicht zu vergleichen ist.

Und doch: Verpflichtet uns nicht das Unrecht damals, heute den Vorrang des Menschen umso entschiedener zu betonen?! Es geht um den bedingungslosen Vorrang des Menschen, jedes Menschen, der unendlich mehr ist, als eine kalkulatorische Größe, mehr ist als Produzent und Konsument, mehr ist, als ein Kostenfaktor auf zwei Beinen. Wie viel unseres Wohlstands heute ruht nach wie vor auf Ausbeutung anderer Menschen, anderer Kontinente auf?! Und laufen wir nicht Gefahr zu vergessen, dass die Erde für alle da ist, nicht nur für die Reichen?! Sind wir nicht zu einer Kultur der Solidarität verpflichtet, auch ganz praktisch, weil Wohlstandsinseln in einem Meer von Armut auf Dauer nicht stabil sind?! Und wie sieht es heute, 70 Jahre nach Kriegsende, um die Möglichkeit aus, in Europa Schutz finden zu können? Schutz, den auch damals so manche, die hier starben, gesucht und nicht gefunden haben. Das Mittelmeer ist längst zu einem riesigen Friedhof geworden. Es ist ein Sterben, das wir beenden können.

Wollen wir in einem Europa leben, in dem wir zwar Banken retten, bei Menschen aber viel weniger Mut, Geschwindigkeit und Entschiedenheit an den Tag legen – auf dem Meer und in den Herkunftsländern selbst, wo Hilfe zwar beginnen muss, aber niemals enden darf? Niemals vergessen heißt auch daran zu erinnern, und es heißt, auch heute gegen Unrecht einzutreten. Wir sind Wissende, sehen den Verzweifelnden ins Gesicht und müssen und können dieses Sterben beenden.

Seid wachsam, so schließt die Lesung, die wir zuvor gehört haben. Das Vergangene ist nie nur vergangen. Es liegt auch an uns, das Vergangene in uns gegenwärtig zu halten; daraus Lehren zu ziehen. Wir sind rechenschaftspflichtig, nicht zuletzt vor den Toten, den Gequälten, den Ausgebeuteten hier und weltweit – damals wie heute. Niemals vergessen! Und daraus Zukunft gestalten! Offen für die Schwächsten – bereit für eine Zivilisation der Solidarität, eine Zivilisation der Liebe! as Erinnern tut Not – auch mit dem Blick nach Vorne. Weil es auch auf jeden und jede von uns ankommt auf dem Weg zu einer besseren, gerechteren, menschlicheren Welt. Amen!

El male rachamim - Gott voller Erbarmen

Jüdische Gedenkfeier

Jüdische Gedenkfeier mit Audiodeskription

Für sehbehinderte Menschen führten Johannes Karner und Gregor Waltl durch die Zeremonie.

Vor dem weithin sichtbaren jüdischen Mahnmal gedachten und beteten die Menschen mit Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch und dem israelischen Botschafter Zvi Heifetz.

Es geht uns etwas an

Rede von Oskar Deutsch

Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Mauthausen von US-Truppen befreit. Vor 70 Jahren wurde Österreich vom Nationalsozialismus befreit. Mauthausen steht als Synonym für unbeschreibliches menschliches Leid, für die Abwesenheit jeglichen Mitgefühls, für Sadismus und Menschenverachtung, für Gewinnsucht, Opportunismus und Mangel an Zivilcourage. Zwischen 1938 und 1945 waren hier mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa unter unvorstellbaren Bedingungen inhaftiert, der Großteil von ihnen wurde vorsätzlich ermordet. Im Konzentrationslager Mauthausen und in weiteren Lagern wie Gusen kamen Tausende im Einsatz für die Rüstungsproduktion ums Leben.

MUSIK

Es brent

„Es brent“ wurde 1938 von Mordechai Gebirtig als Reaktion auf ein Pogrom in der polnischen Stadt Przytyk komponiert. Das Lied erwies sich als prophetisch im Hinblick auf den bevorstehenden Holocaust. Gebirtig wurde 1942 im Ghetto Krakau ermordet. Das Lied beschreibt das Brennen eines jüdischen Städtchens. Der Dichter ruft die Juden auf: Steht nicht tatenlos herum, die Rettung liegt in Eurer Hand, wenn Euch das Städtchen lieb ist, nehmt Geräte zur Hand und löscht den Brand, löscht ihn selbst und zeigt der Welt, wozu ihr imstande seid!

Ose Shalom

Möge derjenige, der im Himmel Frieden stiftet, auch Frieden stiften zwischen uns, in ganz Israel und der ganzen Welt.

El Male Rachamim

Erbarmungsvoller Gott, in den Höhen thronend, gewähre vollkommene Ruhe unter den Fittichen deiner göttlichen Gegenwart!

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Musikalische Gestaltung:

Wiener Jüdischer Chor

Leitung: Roman Grinberg

Oberkantor Shmuel Barzilai

Denken wir daran, dass hinter all den Zahlen und grauenhaften Details Menschen standen! Menschen, die froren, hungerten, Schmerzen litten, Angst hatten, zu Tode erschöpft waren. Gedenken wir der Opfer, die in diesem entmenschten System ermordet wurden, aus Entkräftung, Hunger und Krankheit zu Tode kamen. 70 Jahre danach ist Erinnerung immer noch wichtig und unerlässlich. Nach Jahren des Schweigens und der Verdrängung hat in Österreich ein Aufarbeitungsprozess begonnen. An Schulen, im Rahmen von Initiativen, Gedenkveranstaltungen, in Form von Dokumentationen, Publikationen und vielem mehr, findet permanent eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während der NS-Zeit statt. Es ist ganz wichtig, dass junge Menschen Mauthausen besuchen, um die Grausamkeit der Geschehnisse zu erfassen und ein Gefühl für die Ausmaße des Leides der Shoah zu entwickeln. Einen unersetzlichen Beitrag zu einer Form von Verstehen oder Annäherung an das Geschehene leisteten und leisten noch immer Überlebende. Diesen Menschen gelingt es, das was nicht in Worte zu fassen ist, mit ihren ganz persönlichen Berichten in die Gegenwart zu überführen und vor dem Vergessen zu bewahren. Für ihre Bereitschaft, dies immer wieder auf sich zu nehmen, gebührt ihnen unser größter Dank. Die Überlebenden anzuhören, ihre Geschichte wahrzunehmen, der Opfer zu gedenken – dies ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch für die Zukunft bedeutsam. Bemühungen zur Entwicklung einer Erinnerungskultur in Form von Gedenkveranstaltungen, einer entsprechenden Gedenkrhetorik usw. reichen nicht aus, um die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen – den missing link einzufügen.

Warum ist das wichtig? Weil heute wieder Juden ermordet werden, weil sie Juden sind. Noch sind die Bilder von den brutalen Anschlägen der letzten Monate in Frankreich, Belgien und Dänemark sehr präsent. Motivation für solche Taten sind ein mörderischer, islamistischer Terrorismus und Hass auf Juden. Sie haben bei vielen jüdischen Bürgern in Europa Angst und Unsicherheit ausgelöst und zu Überlegungen geführt, ihr Land zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Es ist traurige Realität, dass gegenwärtig viele Vertreter Jüdischer Gemeinden in Europa nahezu täglich mit Antisemitismus konfrontiert sind. In vielen europäischen Ländern, auch in Österreich, wird ein steigender Antisemitismus beobachtet. Jüngsten Medienberichten zufolge hat die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland im vergangenen Jahr um 25,2 Prozent zugenommen. Neben den bekannten Straftaten gibt es aber auch viele nicht angezeigte Übergriffe, z.B. in Form von wüsten Beschimpfungen, die das Leben von jüdischen Bürgern empfindlich belasten. Das Judentum ist Teil von Europas Geschichte, der Gegenwart und hoffentlich der Zukunft Europas. Wir Juden wollen uns nicht die Freiheit der Wahl, wo wir leben wollen von antisemitischen Verbrechern rauben lassen.

Anschläge, wie sie geschehen sind, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften gefährden unsere demokratische Grundordnung. Aufbauend auf seiner Geschichte, seinen Erfahrungen hat Europa die Voraussetzungen und Ressourcen, selbstbewusst für ein friedliches, auf gegenseitigem Respekt aufbauendes Zusammenleben und für demokratische Freiheit einzutreten. Wenn wir das wollen, ist jeder einzelne aufgefordert, dafür etwas zu tun. Es geht uns etwas an, wenn Bürger aufgrund ihrer Religion oder Herkunft beschimpft oder angegriffen werden und jüdische Einrichtungen massiven Polizeischutz benötigen. Es geht uns etwas an, wenn Hassprediger in Moscheen gegen Juden hetzen. Es geht uns etwas an, wenn Rechtsradikale ihr Gedankengut verbreiten. 70 Jahre nach der Beendigung der Nazi-Diktatur wurden neonazistische Schmierereien an einer der Mauern des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen angebracht.

Es hat uns zu interessieren, warum Jugendliche sich radikalem Gedankengut zuwenden und sich von demokratischen Spielregeln abwenden. Umso wichtiger ist es, dass es die Gedenkstätte Mauthausen gibt, die mit einer beeindruckenden Dauerausstellung und detaillierten Informationen, eingebettet in einem pädagogischen Konzept jungen Menschen und erwachsenen Besuchern die grauenvollen Geschehnisse nahebringt. Die Gedenkstätte Mauthausen ist ein gelungener Beitrag zur Herstellung einer Verbindung der Vergangenheit zur Gegenwart.

Es bedarf vielfältiger Anstrengungen, sei es auf Regierungsebenen, oder in öffentlichen Bereichen, in den Schulen, im Umgang mit neuen Medien, von jedem einzelnen Bürger, um ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft sicherzustellen. Die Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes, das unendliche Leid der Opfer müssen im gesellschaftlichen Bewusstsein derart verankert sein, dass die Gefahren von Antisemitismus und Rassismus in der Gegenwart erkannt und bekämpft werden. Nur wenn dies gelingt, können wir für kommende Generationen eine auf humanistischen Werten aufbauende Zukunft schaffen. Danke.

Versagte Jugend

Lyrik-Rezitation durch junge Jüdinnen und Juden

Was ist ein Mensch ohne Name?
Ohne Identität?
Jeder Mensch hat einen Namen,
der ihm von Gott gegeben wurde,
den ihm gaben sein Vater, seine Mutter.

Von einem Tag auf den anderen, hat man nichts, als nur noch eine Nummer auf dem Arm.
98288
A7630
B6596
A15510

aus „Wir sind trotz allem Menschen“
von Jesse Krauß

plötzlich sind die Menschen anders zu dir
plötzlich wirst du schief angeguckt
wirst nicht mehr gegrüßt

nun musst du ein Zeichen an deiner Kleidung tragen
ein alter Freund kennt dich nicht mehr
dein Kind wird aus der schule ausgeschlossen
auf Plakaten und in der Zeitung immer bösere Worte
wer dir auf der Straße entgegenkommt erwartet dass du ausweichst
oder stößt dich gleich vom Bürgersteig
deine Gemeinde brennt ab
die Feuerwehr löscht nicht
oft ganze gruppen die dich verfolgen
die Polizei lacht

du darfst nicht mehr auf den markt gehen
bekommst essen zugewiesen
du kannst nirgendwo mehr hingehen

deinen Laden hat schon lange niemand mehr betreten

du wirst übel zusammengeschlagen
das Krankenhaus schickt dich weg
du kannst die Miete nicht mehr zahlen

kein Weg mehr keine Möglichkeit mehr
warten auf was? in die fremde gehen?
du bist hier geboren

deine Familie soll sich dort melden
man darf nur wenig mitnehmen
einfach das Beste draus machen
einfach das Beste hoffen
denn sie werden ja wohl nicht
nein sie können ja nicht
es kann doch nicht sein
es darf und soll doch nicht sein
wir sind ja trotz allem Menschen

„Kindheitsträume“
von Rachel Sarah Kumar

Als Kinder haben wir viele Träume und Wünsche.
Unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen sind sehr naiv und treuherzig.
Wir wachsen in einer phantasievollen und isolierten Seifenblase voller Hoffnungen und mit einer Illusion eines rosaroten Weltbildes auf.
Mit der Zeit wachsen wir und merken, dass alles nur Märchen und Geschichten waren, und das rosarote Weltbild beginnt sich schwarzweiß zu färben.
1,5 Millionen Kinder, welche niemals eine Bar- oder Bat Mitzvah feiern durften…
Diesen Kindern wurde nicht nur die Kindheit geraubt - erwachsen werden durften sie auch nicht.
Vom Spielen, Spaßhaben, Lachen und Freisein konnten sie nur träumen – und meistens nicht einmal das.
Alleine wenn das junge Leben mit dem Tod beginnt, weiß man nicht anders.

Schwarze Wolke
unbekannte/r Autor/in, geschrieben in Auschwitz

Am Zyklonhimmel/ Im Feuerschein/ Fährt auf schwarzen Gleisen/
Eine Wolke ein...
Wolke Wolke/ Wo kommst du her/ Kommst du aus den Bergen/
Oder übers Meer...
Ich komm nicht aus den Bergen/ Ich komm nicht übers Meer/
Ich komm von schwarzen Öfen/ Und Feuergruben her...
Wolke Wolke/ Bringst du einen Gruß/
Vom Liebsten eine Botschaft/ Oder einen Kuss...
Ich bringe keine Botschaft/Ich bringe keinen Gruß/
Ich bringe Rauch und Totenstaub/ Und schwarzen Ruß...
Aus den Krematorien/ Aus Knochenglut/
Von Bergen toter Kinder/ Meeren von Blut ...

Wolke schwarze Wolke/ Bleib am Himmel stehen/
Sag mir was ist mit den/ Kindern geschehen ...
Die Kinder sind erschlagen/ Kopf an die Wand/
Erwürgt erschossen/ Vergast verbrannt...
Wolke Wolke/ Wo willst du hin/
Ich muss zu den Erbauern der Gaskammern ziehen
Wolke Wolke/ Warum willst du dahin gehen/
Ich muss an ihrem Himmel Totenwache stehen
Wolke Wolke/ Wie lange willst du bleiben/ Bei Regen und Wind/
Bis die toten Kinder/ Alt geworden sind...
Am Zyklonhimmel/ Im Feuerschein/
Fährt eine Wolke/ In die Sonne ein
Seht auf zum Himmel/ Ich bitte euch sehr/
Könnt ihr die Wolke sehn/ Ist der Himmel leer?

Verpflichtet, einen Menschen aus Gefahr zu retten

Rede von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg

70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges und nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen stehen wir hier, um der Ermordeten zu gedenken. In Auschwitz wird dieses Gedenken im Jänner abgehalten, weil dieses Lager schon im Jänner 1945 befreit wurde. Hier in Mauthausen gab es nicht nur im Lager selbst Morde und andere Grausamkeiten. Wenn es schon schwer zu verstehen ist, dass Menschen in den KZ solche Grausamkeiten verübt haben, so sind es noch zwei Geschehen, die uns gänzlich unverständlich sind.

1. Dass Menschen oder Kreaturen, die den Namen Mensch wahrscheinlich nicht verdienen, die außerhalb des Lagers in den Dörfern um Mauthausen und den anderen Nebenlagern flüchtige Häftlinge jagten und töteten. Das Ganze nahm ein derartiges Ausmaß an, dass sogar ein eigener Name dafür verwendet wurde: Hasenjagd.

2. Die Tora schreibt uns im Buch Levitikus vor: „Lo Taamod al dam reecha,“ das heißt, dass wir verpflichtet sind, einen Menschen, der in Gefahr gerät, zu retten. Im Talmud wird erklärt, dass dies natürlich nur dann vorgeschrieben ist, wenn die Person die Möglichkeit und Fähigkeit hat, den Gefährdeten zu retten. Es gab auch bei Mauthausen einen kleinen Teil der Bevölkerung, gute Menschen, die obwohl es verboten war, Häftlingen Essen zusteckten. In ganz besonderen Fällen gab es sogar Helden, die solche Flüchtlinge bei sich versteckten, obwohl das lebensgefährlich war.

Dies sollte auch als Lehre für unsere Zeit gesehen werden. Leider geschehen in unseren Tagen sehr viele antisemitische Übergriffe, zum Teil mit Todesopfern. Die Aufgabe an die österreichische und europäische Gesellschaft ist es, zu zeigen, dass heute die Regierungen und Bevölkerungen, die eindeutig gegen Antisemitismus sprechen und handeln, in der Mehrzahl sind und Akte des Extremismus bekämpfen und nicht dulden werden.

Für die Erhebung ihrer Seelen

Zum Gedenken an die in der Schoa ermordeten Märtyrer

Erbarmungsvoller Gott, in den Höhen thronend, gewähre vollkommene Ruhe unter den Fittichen deiner göttlichen Gegenwart in der Erhabenheit der Heiligen und Reinen, die im himmlischen Glanz leuchten! Allen Seelen der sechs Millionen Juden, der Opfer der Schoa in Europa, die zur Heiligung des göttlichen Namens ermordet wurden. In Auschwitz, Bergen-Belsen, Majdanek, Treblinka und den übrigen Vernichtungslagern. Die ganze Gemeinde betet für die Erhebung ihrer Seelen. Deshalb möge der Herr des Erbarmens sie für ewig im Schutz seiner Fittiche bergen und ihre Seelen in den Bund des Lebens aufnehmen. Der Ewige ist ihr Erbteil, im Garten Eden mögen sie weilen, in Frieden auf ihrem Lager ruhen. Ihren Anteil mögen sie am Ende der Tage bekommen, und wir sagen Amen.

Sein Reich erstehe in eurem Leben

Kaddisch-Gebet

Sein großer Name werde erhoben und geheiligt in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat. Sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, bald und in naher Zeit. Sprecht Amen!

Sein großer Name sei gelobt für immer und für alle Ewigkeit. Gelobt uns gepriesen, verherrlicht und erhoben, erhöht und gefeiert, hoch erhoben und gerühmt sei der Name des Heiligen. Gelobt sei er, erhaben über allem Lob und Gesang, Preisung und Trostworten, die in der Welt gesprochen werden. Sprecht Amen!

Fülle des himmlischen Friedens und Leben werde uns und ganz Israel zuteil. Sprecht Amen!

Der Frieden stiftet in seinen Höhen, stifte Frieden für uns und ganz Israel. Sprecht Amen!

Kommentar

Stefan Gehrer
Johannes Karner
Christoph Riedl-Daser
Helma Poschner
Gregor Waltl

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