Predigt

Predigt von Kardinal Christoph Schönborn

Die Predigt von Kardinal Christoph Schönborn anläßlich der Orgelweihe im Stephansdom.

Verehrter Herr Bundespräsident,

liebe Schwestern und Brüder
hier im Dom.

Und liebe Zuseher, die über TV
oder Radio mit dabei sind.

"Ich will ein Lied singen
von meinem Freund,

das Lied meines Liebsten
von seinem Weinberg."

So beginnt heute die erste Lesung.

Es ist Weinlesezeit – auch bei uns.

Damals sangen die Winzer
ihre Lieder beim Weinlesen.

Heute auch noch?

Ich fürchte, dazu ist alles zu
hektisch, zu technisch geworden.

Es waren Lieder der Freude
zur Zeit der Ernte.

Der Prophet singt seinem Freund,
seinem Liebsten, ein Lied von Gott.

Und von dessen geliebtem Weinberg.

Sein Weinberg ist „das Haus Israel“,
sein geliebtes Volk.

Dafür hat er viel Liebe, Sorgfalt
und Mühe aufgewendet.

Von seinem geliebten Weinberg

erwartet er sich jetzt
zur Zeit der Lese süße Trauben.

Doch da mischen sich in den
fröhlichen Gesang düstere Töne.

Die werden im Evangelium,
im Gleichnis, das Jesus erzählt,

zu schrillen Dissonanzen.

Aus dem Lied der Freude
wird ein Klagelied.

Die Klage Gottes
über sein geliebtes Volk,

die Klage Gottes über den Menschen.

Jesaia nennt den Grund der Klage:

Gott „hoffte auf Rechtsspruch“ –
doch siehe da: „Rechtsbruch“.

Es wurde ein „Hilfegeschrei“.

Der Klageschrei der unter Korruption
und Krieg leidenden Menschen

wird zum Klagelied Gottes.

Und zur Anklage des Unrechts,

der Rechtlosigkeit,
unter der so viele Menschen leiden.

Der Höhepunkt dieser Klage Gottes
ist im Gleichnis von Jesus erreicht.

Die Weinberg-Pächter bringen sogar
den Sohn des Weinbergbesitzers um.

Sie wollen den Weinberg
an sich reißen.

Unrecht und Gewalttaten:

So sieht eine Welt aus,

die die Schöpfung nicht mehr
als vertraute Gabe von Gott annimmt.

Sondern die sie als ihr Eigentum
betrachtet, das man ausbeuten kann.

In einer Welt ohne Gott sind
Zerstörung und Verwüstung die Folge.

In ihr verstummt das Lied
der Dankbarkeit und der Freude

über Gott und seine Schöpfung.

Von Zerstörung und Verwüstung
kann auch der Stephansdom erzählen.

Der Dombrand vom 12. April 1945
war eine der Folgen

einer der größten Katastrophen
der Menschheitsgeschichte,

des 2. Weltkrieges, dieser Ausgeburt
eines Nationalismus,

Rassismus und Antisemitismus.

Als der Dom brannte, war es
wie ein Schlusspunkt einer Tragödie,

die mit dem Brand aller Synagogen
am 9. November 1938 Ausdruck fand.

Von den damaligen Wunden des Doms
ist heute nichts mehr zu sehen.

Ein Zeuge des ausgebrannten Doms
ist das Lettner-Kreuz,

das heute wieder
über der Vierung thront.

Sein Kopf und seine Arme
haben den Brand überstanden.

Segnend schwebt das Kreuz
über den Eintretenden.

Nicht überlebt hat den Dombrand
die große Orgel der Firma Walcker,

die Anfang Oktober 1886
eingeweiht worden war.

Zeugen des Dombrands erinnerten sich

an das gnadenvolle Heulen
der Orgelpfeifen,

die durch die heiße Luft des Brandes
von selbst erklangen.

Die letzte Wundes des Krieges
wird heute

mit der Weihe der erneuerten
Riesenorgel geschlossen.

Die 1960 erbaute Orgel
war wohl eine Notlösung.

Ihre Funktion übernahm 1991 die
große Chor-Orgel, ein großer Gewinn.

Heute haben wir die Freude,
die neue Riesenorgel,

das größte Instrument Österreichs,
einweihen zu dürfen.

Dass dies gerade in der Zeit
der weltweiten Pandemie geschieht,

ist ein Zeichen des Trostes
und der Hoffnung.

Es ist ein Urbedürfnis des Menschen,
zu singen und zu musizieren.

Was wäre ein Gottesdienst
ohne Gesang?

Was wäre ein Leben ohne Musik?

Wer singt, betet doppelt.

Und Beten brauchen wir
in dieser Zeit doppelt so viel.

Daher brauchen wir das Lob Gottes,
den Dank für die Schöpfung,

die Bitte um den Segen,

die Möglichkeit, unsere Trauer
in Liedern auszudrücken,

unser Gottvertrauen,
das manchmal so schwankend ist,

mit Liedern aus vollem Herzen
Gott zuzusingen.

Und wenn die Orgel unser Singen,
Loben und Bitten trägt und erhebt,

dann wird unser Beten
zum mächtigen Strom des Segens.

So rufen wir mit dem Psalmisten
zum Herrn des Weinbergs:

Ich schließe mit diesen Worten
voll Trost und Hoffnung:

„Blicke vom Himmel herab und sieh,
sorgen für diesen Weinstock!“

„Beschütze,
was deine Rechte gepflanzt hat.“

„Wir werden nicht von dir weichen.“

„Belebe uns
und wir rufen deinen Namen.“

„Herr, stelle uns wieder her.“

„Lass dein Angesicht leuchten
und wir sind gerettet.“

Amen.