Bibelkommentar zu Matthäus 15, 21 - 28

Die Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau ereignet sich im Gebiet von Tyrus und Sidon. Tyrus war damals eine bedeutende phönizische, heidnische Stadt und Sidon, eine Hafenstadt am Mittelmeer, 35 Kilometer nördlich von Tyrus.

Dorthin zieht Jesus sich zurück. Eine so genannte „kanaanäische Frau“ kommt zu ihm. Das heißt, dass sie keine Jüdin, sondern eine Frau mit heidnischem Glauben ist. Sie bittet Jesus um Hilfe. Es geht um ihre kranke Tochter. Doch Jesus schweigt. Kein Wort kommt ihm über die Lippen. Er, von dem noch knapp zuvor erzählt wurde, dass er Brot und Fische nicht ausgehen lässt, Wind und Wellen trotzt, über das Wasser zu gehen vermag und bereits Gelähmte, Blinde, Stumme und Besessene geheilt hat, er scheint dieses Mal unberührbar. Er gibt keine Antwort – so heißt es im Text.

Maria Elisabeth Aigner
ist katholische Theologin und lehrt am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl Franzens Universität Graz

Zynismus und Demütigung

Hat er weggesehen, weggehört, die Frau einfach ignoriert? Das Schreien verstummt nicht – Jesus reagiert nicht. Die Jünger versuchen einzulenken und intervenieren. Es ist schlichtweg nicht auszuhalten – diese Frau agiert überaus penetrant. In aller Öffentlichkeit erregt sie mit ihrem Geschrei Aufsehen. Die Antwort Jesu auf die Bitte der Jünger, die Frau von ihrer Sorge zu befreien, ist ernüchternd – vielmehr noch: Sie klingt unbarmherzig, abstoßend und kühl. „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Er, der sich ständig über menschliche Grenzziehungen hinwegsetzt, um Menschen aus ihrer Enge zu befreien, schafft hier selber eine unüberwindbare Mauer.

Die Frau lässt nicht locker. Woher nimmt sie nur diesen Mut und diese Kraft, sich nicht zurückweisen zu lassen? Sie wirft sich sogar vor Jesus nieder. „Hilf mir!“ Jesu Reaktion ist an Zynismus und Demütigung kaum zu überbieten wenn er sagt: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ Nicht nur, dass er damit der Frau die Hilfe verweigert. Er setzt sie mit Hunden gleich. Ein herumstreunender Hund war in der damaligen Zeit ein Bild für eine niedrige Kreatur und wurde auch als Schimpfwort verwendet.

Jesu Botschaft ist nicht nur für Israeliten

Die Frau lässt nicht locker. Inständig bittet sie Jesus um Hilfe, lässt sich dabei weder beirren noch demütigen. Schon gar nicht zieht sie gekränkt oder verletzt den Rücktritt an. Sie bleibt in Kontakt mit ihm, greift den Vergleich mit den Hunden auf und steigt auf eine Argumentation ein, die schlüssig ist: Hunde bekommen kein Brot, aber zumindest Brotreste, die vom Tisch der Herren fallen.

Ich denke, es geht hier jedoch nicht um logische Argumente. Die Frau begibt sich auf dieselbe Ebene wie Jesus und entlarvt damit das Dahinterliegende: Indem sie auf die absurde bildhafte Argumentation einsteigt, hält sie ihm einen Spiegel vor Augen. Und Jesus sieht und versteht. Die zentrale Deutung liegt nahe: Der Autor des Matthäus-Evangeliums schildert, wie Jesus begreift, dass seine Botschaft von einem heilenden und befreienden Gott nicht nur an Israel gerichtet ist.

Für mich ist dieser Text aber zugleich eine unglaublich beeindruckende Frauengeschichte. Er erzählt von einer überaus mutigen Frau, die alles riskiert und zunächst Schiffbruch erleidet. Dem Scheitern setzt sie jedoch ein schier unerschütterliches Vertrauen entgegen. Jesus nennt diese Art von Vertrauen einen „großen“ Glauben, der in dieser Erzählung das Unmögliche möglich macht: Es heißt, dass die Tochter von da an geheilt war. Indem Jesus auf den Glauben der Frau verweist, relativiert er sich selbst. Das Ansinnen der Frau aber ist nicht nur mutig sondern auch voller Demut. Es zeugt von einer großen inneren Freiheit. Davon lernt Jesus und davon können wahrscheinlich auch andere lernen.