Kurzessay zu Markus 11, 1 – 10

Ich kann diesen bekannten Text über den Einzug in Jerusalem kaum hören, ohne zugleich einige der vielen Bilder zu sehen, die aus ihm entstanden sind und die in Kirchen und Museen zu finden sind.

Die Bilder liefert der Text selbst. Da ist der Ölberg, da ist das Dorf, wo ein junger Esel angebunden steht und nun mitgenommen wird, da sind die Kleider, die auf den Esel gelegt werden, Jesus, der sich drauf setzt, die Kleider, die auf der Straße ausgebreitet werden wie rote Teppiche, die Zweige, die abgerissen und auf den Weg gestreut werden, die Hosanna-Rufe: So wird eine Bildgeschichte erzählt, mit vielen kleinen Einzelszenen, die geradezu danach rufen, auch bildlich und szenisch dargestellt zu werden.

Brigitte Schwens-Harrant
ist Theologin, Germanistin und Feuilletonistin

Von Hosanna-Rufen zu „Kreuzige ihn!“

Und das wurde sie dann auch, in unzähligen Fresken und Ikonen, Gemälden und Glasfenstern ist der Einzug nach Jerusalem abgebildet. Ob von Giotto gemalt oder von Rubens: Diese Geschichte reizte jahrhundertelang Künstler zur Auslegung. Denn Auslegung ist jedes Bild: Einmal sitzt Jesus arm wie ein Bettler in bescheidenem Umhang auf dem ebenso arm aussehenden Esel, ein anderes Mal reitet er in königlichen Gewändern ein oder in der Positur eines siegreichen römischen Kaisers, und je nach Kultur sitzt er seitlich oder rittlings auf dem kleinen Reittier.

Wie die Künstler, so mühten sich auch die Theologen ab, den bildstarken Text zu verstehen: Sie stellten die Frage, ob dieser Einzug nach Jerusalem denn tatsächlich stattgefunden habe. Oder ob er eine Erzählung sei, die die folgenden Geschehnisse deuten soll. Ob Jesus mit diesem Einzug selbst etwas zeigen wollte. Lasen die einen den Text symbolisch, lasen die anderen ihn politisch. Sahen die einen Jesus als Festpilger einziehen und von anderen Pilgern begrüßt werden, sahen die anderen vor allem den einreitenden König, der auf Gewalt verzichtet. Wieder andere wollten in ihm einen Befreier von der römischen Besatzung sehen.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 29.3.2015, 7.05 Uhr, Ö1

Wie auch immer dieser Einzug nach Jerusalem gelesen und gedeutet wird: Auf die Erzählung folgt im biblischen Text und in der kirchlichen Liturgie der Karwoche jedenfalls bald die Leidensgeschichte und statt Hosanna-Rufen ertönt das „Kreuzige ihn!“