Kurzessay zu Apostelgeschichte 6, 8 - 10; 7, 54 - 60

Das Kirchenjahr mutet den Menschen einiges zu. Seine Dramaturgie ist selbst für Insider manchmal irritierend. Wurde doch erst gestern die Geburt eines himmlischen Kindes gefeiert, weltweit und idyllisch besungen im Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Und heute, nur einen Tag später, steht schon – statt der Krippe das Kreuz – ein christlicher Märtyrer im Kalender. Stephanus, Blutzeuge Nummer eins...

Dr. Josef Schultes
ist römisch-katholischer Theologe und Bibelwissenschaftler

Wunder und große Zeichen

Stephanus: ‚Stephansplatz‘ taucht da spontan in mir auf und ‚Stephansdom‘. Dieser markante gotische Kirchenbau – von den Wienerinnen und Wienern einfach ‚Steffl‘ genannt – als junger Theologiestudent habe ich ihn kennen und lieben gelernt. Denn jahrelang war ich bei vielen großen Anlässen im Dom, als Kreuzträger in der Assistenz von Kardinal König. Die festlichen Pontifikalämter sind mir noch gut in Erinnerung, vor dem frühbarocken Hochaltar mit der ‚Steinigung des heiligen Stephanus‘. Das Bild zieht förmlich nach oben, es lässt einen Blick tun in den offenen Himmel, wo Christus zur Rechten Gottes steht.

Vom Hochaltarbild im Wiener Stephansdom zum Bild des Stephanus, wie es der Evangelist Lukas zeichnet, denn Lukas hat ja nicht nur eines der vier Evangelien, sondern auch die Apostelgeschichte geschrieben. Stephanós, ein griechischer Name, bedeutet ‚Siegeskranz‘, ‚Krone‘. Zunächst kann der Name auf eine griechische Herkunft verweisen. Doch zugleich ist er mehr, nämlich der programmatische Ausdruck für seinen Träger. Denn Lukas führt mit Stephanus einen neuen Heldentyp ein, der in der Nachfolge Jesu bis zum Äußersten geht. Nach dem hellenistischen Ideal eines weisen, heiligen Mannes wird er daher mit pneuma kai sophia charakterisiert, „voll Geist und Weisheit” (Apg 6,3). Lukas präsentiert ihn noch mit einem zweiten Wortpaar, mit charis kai dynamis, „voll Gnade und Kraft”; genau der Auftakt zur Lesung vom heutigen Tag: “Voll Gnade und Kraft tat Stephanus Wunder und große Zeichen unter dem Volk” (Apg 6,8).

Längste Rede der Apostelgeschichte

Stephanus, ein Mann mit Charisma, mit Dynamik – Stephanus zählt zu den sieben ersten Diakonen. Sie sind von den zwölf Aposteln eingesetzt und mit sozialen Diensten beauftragt. Diakone: eine neue Institution in der wachsenden Gemeinde von Jerusalem. Unter den Sieben steht Stephanus an erster Stelle. Er, redebegabt und hellenistischer Judenchrist, er gerät in Opposition zu einigen jüdischen Gruppierungen. Für sie, die aus der Diaspora, aus der Ferne nach Jerusalem kommen, für sie sind der Kult im Tempel und die Geltung der Tora unabänderlich. Die Auseinandersetzung eskaliert, Stephanus wird wegen Blasphemie angeklagt. Es kommt zum Prozess vor dem Hohen Rat.

Erfüllte Zeit
Samstag, 26.12.2015, 7.05 Uhr, Ö1

Im Rahmen dieses Verfahrens lässt der Evangelist Lukas den Stephanus eine Apologie halten: Es ist die längste Rede der Apostelgeschichte, volle 52 Verse! Die Verteidigung des Stephanus bietet einen Überblick über die Geschichte Israels; ein weiter Bogen, der von Abraham über Mose bis zu Salomo reicht. Dass gerade heute, am Gedenktag des Stephanus, diese Rede in der Mess-Lesung ausgelassen wird, und zwar komplett, das tut mir als Bibel-Begeistertem natürlich weh! Nur die Reaktion auf diese packende Defensio kommt in der heutigen Lesung vor, die dadurch etwas, nein: sehr, in der Luft hängt. Doch selbst mit diesem Text-Torso wird klar: Nicht die Steinigung steht im Vordergrund oder das Martyrium. Sondern die von Stephanus vertretenen Werte und Normen, wie sie in der frühen Kirche gelten. Lukas formuliert sie ganz parallel zu Geist und Leben Jesu, vor allem zu seiner Passion.

Weltweite Mission

Dazu ein passendes Beispiel aus meiner Arbeit an der Religionspädagogischen Akademie in Wien-Strebersdorf. Thema des Seminars: Das Doppelwerk des Lukas. Die eine Studentin liest aus dem 3. Kapitel des Evangeliums nach Lukas: „Zusammen mit dem ganzen Volk ließ sich auch Jesus taufen. Und während er betete, öffnete sich der Himmel“ (Lk 3,21). Die andere Studentin spricht mit der Apostelgeschichte als Stephanus: „Ich sehe die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen (Apg 7,56). Darauf wieder die erste, aus dem Verhör Jesu vor dem Hohen Rat: „Von nun an wird der Menschensohn zur Rechten des allmächtigen Gottes sitzen“ (Lk 22,69). Auf die gleichfalls parallel gestaltete Bitte zur Vergebung folgen schließlich bei beiden ihre letzten Worte. Jesus nach Lukas: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Und Stephanus betet: “Herr Jesus, nimm meinen Geist auf” (Apg 7,59).

Abschließend noch eine Perspektive, die mir wichtig ist. Mitten im dramatischen Geschehen um Stephanus legen Menschen „ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß“ (Apg 7,58). Unmittelbar nach der heutigen Lesung steht: „Saulus aber willigte in seine Tötung mit ein. An jenem Tag brach eine schwere Verfolgung über die Kirche in Jerusalem herein. Alle wurden in die Gegenden von Judäa und Samarien zerstreut. … Die Gläubigen aber zogen umher und verkündeten das Wort.“ (Apg 8,1.4). Soweit aus dem 8. Kapitel. Den Gesamtaufbau der Apostelgeschichte hat Lukas so angelegt, dass der Tod des Stephanus als die eigentliche Ursache der weltweiten Mission erscheint.

Bei meinem nächsten Besuch im Stephansdom will ich vom Riesentor langsam nach vorne zum Hochaltar gehen. Und dankbar sein, dass die weltweite Mission auch mich erreicht hat. Dankbar für Lukas, für Saulus und für Stephanus.