Bibelessay zu Johannes 14, 1 – 6

Was ist Wahrheit? Diese Frage stellt schon der römische Prokurator Pontius Pilatus, als Jesus von Nazareth als Angeklagter vor ihm steht.

Es geht um Machtansprüche, um den Erhalt politischer Stabilität, notfalls um jeden Preis, es geht um eine Wahrheit, die festlegt, wer etwas zu sagen hat und wer lieber schweigen sollte. Pilatus ist politischer Verantwortungsträger, weiß, dass es viele Wahrheiten nebeneinander gibt und es darum nur ein Ziel geben kann, nämlich die eigene Wahrheit als die einzig gültige durchzusetzen.

Johannes Wittich
ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Wien

Die Wahrheit Jesu

Ein hochaktuelles Thema in Zeiten, in denen Politkern pauschal unterstellt wird, die Unwahrheit zu sagen oder Journalistinnen und Journalisten vorgeworfen wird, für ein gefährliches Syndikat namens „Lügenpresse“ zu arbeiten.

Mit dem Verständnis Jesu von Wahrheit konnte schon Pontius Pilatus nichts anfangen. Für ihn bedeutete „Wahrheit“, einen Absolutheitsanspruch zu stellen. Wenn Jesus davon spricht, der Weg, die Wahrheit und das Leben zu sein, dann ist das oft genug auch so verstanden worden, und zwar sowohl von christlicher Seite, als auch von deren Kritikern: Nämlich dann, wenn Gläubige aus diesem Satz das Recht ablesen, ja die Verpflichtung heraus hören, anderen diese eine Wahrheit aufzuzwingen. Oder dann, wen dem Christentum pauschal der Vorwurf gemacht wird, eben immer nur dieses eine zu wollen, nämlich die Lufthoheit über die Wahrheitssuche anderer Menschen.

Seelsorger der Jünger

Die Wahrheit Jesu ist eine ganz andere. Das wird nicht nur, aber auch hier im Johannesevangelium klar. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft, diesen Satz vom Weg, der Wahrheit und dem Leben im Zusammenhang, in dem er steht, zu betrachten.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 1.1.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Der Jesus, der uns hier begegnet, ist nicht Christus, der Weltenherrscher, wie er uns dann später beschrieben wird in apokalyptischen Texten, wie denen des Buches der Offenbarung, in Bildern vom Ende der Zeit. Hier ist Jesus der Seelsorger seiner Jünger. Der ihnen auf Augenhöhe begegnet. Ihnen zuhört, ihre existenziellen Fragen, Nöte und Ängste aufnimmt, versteht, und Hilfe anbietet. Der größere Zusammenhang sind die Abschiedsreden Jesu. Trost in einer Situation, in der die Jünger nicht mehr weiter wissen: Wie wird es sein, wenn Jesus nicht mehr da ist? Wer hilft uns dann? Und: Wie wird es sein, wenn unser Leben zu Ende ist? Ist das dann das endgültige schwarze Loch, in das wir fallen?

Ihr habt Angst?

Jesus nimmt diese Ängste auf: Ihr habt Angst? Ich verstehe das! Ihr kennt euch nicht mehr aus? Vertraut mir. Die Hilfe, die ihr braucht, findet ihr in meiner Person: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Für euch, in eurer Not.

Es geht also um die Frage, wo Menschen in ihrer Lebensangst Hilfe finden können. Im Johannesevangelium bietet sich Jesus als tragfähige Antwort für existenzielle Nöte an. Letztlich bleibt es aber immer eine zutiefst persönliche Entscheidung, an welchem Bezugspunkt ich mein Leben ausrichte. Was ich finden kann, ist eine Wahrheit, die meine Wahrheit ist. Nicht als intellektueller Akt, sondern als Wiederentdeckung meines Grundvertrauens. Ein missionarischer Anspruch lässt sich aber daraus ganz sicher nicht ableiten.

So ist, wenn Jesus sich als Weg, Wahrheit und Leben anbietet, genau nach der Bedeutung dieser drei Begriffe zu fragen. Alle drei sind ein Angebot: Der Weg als Hilfe zur Lebensbewältigung. Die Wahrheit als beides: Erkenntnis der Verletzlichkeit und – und gleichzeitig des Getragen-Seins. Und schließlich das Leben: selbstbestimmt und ohne Angst.