Bibelessay zu Johannes 1, 29 – 34

„Das habe ich gesehen und ich bezeuge“: Diese Worte von Johannes dem Täufer sind bezeichnend für das gesamte Evangelium. Zeugnis ist darin ein wichtiges Thema, der Text will zudem selbst - wie auch die anderen Evangelien - Zeugnis ablegen.

Was wird hier erzählt? Johannes der Täufer zeigt und fordert seine Zuhörer zum Sehen auf: Seht!

Brigitte Schwens-Harrant
ist katholische Theologin und Literaturkritikerin

Leid und Schmerz

Es gibt ein einzigartiges Bild in der europäischen Kunstgeschichte, in dem eine solche Szene abgebildet ist. Es findet sich am sogenannten Isenheimer Altar, der heute im Museum Unterlinden in Colmar ausgestellt wird. Anfang des 16. Jahrhunderts von Matthias Grünewald gemalt, war dieser Altar ursprünglich für Schwerkranke bestimmt, die im Antoniter-Kloster in Isenheim gepflegt wurden. Leid und Schmerz, den die Betrachter am eigenen Leib erfuhren, sind darin auf eine völlig neue, in ihrer Genauigkeit und Schonungslosigkeit geradezu brutale Art dargestellt.

Drei Schauseiten hatte dieser Flügelaltar sogar, man konnte sie je nach Situation im Kirchenjahr einstellen. Auf der ersten findet sich jene Szene, die ich meine. Dort ist die Kreuzigung dargestellt, ein gedemütigter und völlig zerstörter Mensch mit schmerzerfülltem Gesicht und zerrissenem Fleisch hängt da. Rechts vom Kreuz steht Johannes der Täufer – und zeigt auf den Gekreuzigten.

Langer Zeigefinger

Ein historisierendes Bild ist das nicht, denn Johannes der Täufer wurde bereits 29 n. Chr. enthauptet. Zur Zeit von Jesu Kreuzigung war er also nicht mehr am Leben, konnte nicht mehr neben dem Kreuz stehen. Der Maler Grünewald hat sich aber natürlich nicht geirrt. Es geht hier nicht um Chronologie oder um fotografische Abbildung von konkreten Geschehnissen an einem Tag X. Grünewald erzählt mit seinem Bild etwas ganz anderes, nämlich unter anderem das, was in diesem Evangelientext angesprochen wird. Dass Johannes der Täufer zeigt und spricht: Seht her, ich bezeuge.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 15.1.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Dafür malte Grünewald dem Täufer einen sehr, sehr langen Zeigefinger, fast so lange wie das Gesicht des Johannes. Der Täufer als Zeuge und Zeiger, deutlicher geht es wohl nicht. Das im Text angesprochene Lamm steht dem Täufer hier zu Füßen.

Schaut auf das Opfer!

Was passiert in diesem Bild? Es ist – wie der Text – ein Zeugnis, es erzählt und zeigt auf eine ganz eigene Art. Die Worte von Johannes dem Täufer, die Christen auch aus der Liturgie ihrer Gottesdienste kennen, werden in ein deutliches und verstehbares Bild gebracht: „Seht, das Lamm Gottes“, sagt Johannes im Text und zeigt auf Jesus. Anders gesagt: Schaut auf das Opfer!

Das zeigt Grünewald. Was vielleicht im Evangeliumstext nicht verständlich ist: Hier wird es für jeden sichtbar, der das Bild ansieht. Grünewald zeigt dabei auch die Gewalt, die dem Opfer angetan worden ist. Und er mahnt damit auch alle Betrachter, ihrerseits die Opfer nicht aus dem Blick zu verlieren. Schaut hin!