Bibelessay zu Matthäus 5, 17 – 37

Dieser Text von Matthäus ist etwas vom Radikalsten, was man zu hören bekommt. „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als jene der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Moment mal! Die Gerechtigkeit der Pharisäer lasse ich nicht so einfach schlecht reden. Pharisäer waren Menschen, die die Erfüllung der biblischen Schriften sehr ernst nahmen. Sie hatten durchaus einen Sinn für Recht und Gerechtigkeit, legten sich selbst Einschränkungen auf, bemühten sich, ihr Leben redlich und liebevoll zu gestalten.

Severin Renoldner
ist katholischer Theologe und Philosoph

Egoistische Gesinnung

Meine Gerechtigkeit sollte weit größer sein als ihre … das ist zumindest eine Überforderung. Eher könnte ich mir vornehmen, wenigstens halb so konsequent, so sozial, so religiös aktiv zu sein wie die Pharisäer. Aus meiner Warte wäre das eine große Steigerung. Warum geht das Matthäusevangelium derart hart mit den Pharisäern ins Gericht?

In diesem Text stellt Jesus der geforderten ethischen Anstrengung des Menschen – ich soll das Gute tun, die Gebote erfüllen, gerecht handeln etc. – eine nüchterne Selbsteinschätzung gegenüber: ich kann gar nicht wirklich gerecht sein. Schon in meinen Gedanken, heimlichen Absichten oder Wünschen verfehle ich mich. Dieser Text macht es einem wirklich nicht leicht – vielmehr kann er regelrecht entmutigen: was immer du auch tun wirst, du wirst an die Vollkommenheit Gottes nicht herankommen. Selbst hinter deinen guten Taten scheint vielleicht eine heimliche egoistische Gesinnung hervor, in deinen Fantasien und Wünschen handelst du nicht so wie du solltest und so weiter.

Auf das Gute vertrauen

In diesem Text werde ich ständig und grundlegend kritisiert. Mein gutes Handeln, meine Lebensweise, die versucht, „es richtig zu machen“, ist nicht genug. Vor allem dann nicht, wenn ich glaube, dass durch meine guten Taten schon die großen Ziele des Lebens erreicht werden. Eigentlich bleibt nach diesem Evangelium nicht viel übrig von den ethischen Anstrengungen der Pharisäer – und noch viel weniger von meinen viel kleineren Bemühungen um das Gute.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 12.2.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Und dann heißt es da plötzlich: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein!“ Eindeutig sollte ich sein. Aber wer gerade gehört hat, wie schwer, ja wie völlig unmöglich es ist, ganz gut zu sein, alles richtig zu machen, der muss einen anderen Weg wählen. Nicht das Gute allein herbeizuzaubern, sondern darauf zu vertrauen dass es auch von anderer Seite auf mich zukommt.

Wahrhaftige Gerechtigkeit

Die Kritik an den Pharisäern spricht ihnen nicht das Bemühen um das Gute ab, aber sie ortet Hochmut bei ihnen. Wer glaubt, selbst ganz gut zu sein, hat blinde Flecken. Eine nüchterne, realistischere Selbstsicht erkennt auch die eigenen Fehler. Sie führt deshalb zu einer demütigeren Haltung, die nicht auf dem hohen Ross der Moral daher kommt.

Völlige, wahrhaftige Gerechtigkeit gibt es nur in Gott, in der Vollendung. Gerade mit einem nüchternen und selbstkritischen Blick auf meine eigene kleine Gerechtigkeit bleibe ich einer, der immer dazulernt, und sich nicht auf falschen Lorbeeren ausruht.