Bibelessay zu Matthäus 5, 38 – 48

Diese Passage aus der Bergpredigt Jesu zählt zu den herausforderndsten Texten der gesamten Bibel. Die hier gemachten Vorgaben stellen für die meisten Menschen nicht nur eine moralische Überforderung dar, sondern eine unerhörte Provokation. Feindesliebe!!!

Ist das nicht widersinnig? Feindschaft und Liebe sind doch rein semantisch schon als Gegensatzpaar definiert. Feinde lieben! – Kann man von jemandem verlangen, sich mit Wasser abzutrocknen? – Eben!

Markus Schlagnitweit
ist Hochschul-, Akademiker- und Künstlerseelsorger der Diözese Linz

Gottes Tempel

Generationen von Theologen und Predigern haben schon versucht, diesen Text zu glätten, seinen Widersinn „weg zu interpretieren“ und das Unmaß seiner moralischen Forderungen mundgerecht zuzurichten. Aber keiner dieser Versuche vermag wirklich zu überzeugen und der Wucht dieses Textes standzuhalten.

Einen möglichen Zugang könnte die heute in den katholischen Gottesdiensten dem Evangelium vorangestellte Lesung aus dem 1. Korintherbrief des Apostels Paulus erschließen: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“, fragt der Apostel da in seinem Brief und antwortet gleich selber: „Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“ – Auch diese Worte sind eine Überforderung, wenngleich eine weitaus angenehmere: Tempel, Wohnung Gottes sein – welcher Mensch vermag das? Stets unfertig und ungenügend; eher noch ein Rohbau, eher eine ewige Baustelle als eine Wohnung, ein Tempel gar!

Erfüllte Zeit
Sonntag, 19.2.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Auch der Feind ist heilig

Und dann auch noch: heilig – nicht als Forderung, sondern als Feststellung: „Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“ – Wenn diese Zusage gilt, dann muss sie wohl allen Menschen gelten. Welche Vorzüge hätte schon ein Einzelner vorzuweisen, dass sie diese Titulierung rechtfertigten in Unterscheidung zu anderen Menschen? – Nein, wenn schon „heiliger Tempel“, wenn schon „Wohnung Gottes“ – dann heißen alle Menschen so, und sind alle heilig! – Heilig: also verehrungswürdig, unantastbar, unbedingt liebenswert. – Alle: also auch die ganz Anderen, letztendlich sogar die eigenen Feinde.

Vielleicht sind diese so zu lieben, wie man eben das Heilige liebt: nicht unbedingt mit derselben Wärme und Zärtlichkeit, mit der man Freunde oder gar Lebenspartner liebt – aber jedenfalls in unbedingter Ehrfurcht und Respekt und im Bewusstsein, dass dieser Andere, dass dieser Feind von unbedingter Bedeutung und Würde ist: Heilig auch er; auch er ein Tempel Gottes – selbst noch im brennendsten Konflikt.