Bibelessay zu 1 Samuel 16, 1.6-7.10-13

Der politische Führer wird von Gott erwählt? Mich irritiert das. Ist dieser Text nicht ein antidemokratischer Text?

Mir kommt in den Sinn, was ich in meiner Jugend in einem Lexikon aus der Zeit des Nationalsozialismus gelesen hatte: „Der Führer wird nicht gewählt, sondern erwählt.“ Und der damalige Führer galt als von der Vorsehung erwählt. Doch wer die Bibel zur Legitimierung von Herrschaftsinteressen heute verwendet, reißt sie aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang, missbraucht den Text und kann ihm nicht gerecht werden.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

„Der Mensch sieht, was vor den Augen ist...“

Der Text aus dem Ersten Testament erzählt, wie schwer es vor 3000 Jahren war, einen Nachfolger für den psychisch kranken König Saul zu finden. Es war eine für das Volk Israel dunkle Zeit, in der Samuel beauftragt wurde, den von Gott bestimmten Nachfolger zu finden. Samuels Schwierigkeiten, Gottes Willen zu erkennen, waren groß. Zu sehr ging er von seinen eigenen Erwartungen und vom äußeren Erscheinungsbild möglicher Kandidaten aus. So wurde es ein langer Weg, bis auch der ins Spiel kam, der normalerweise nicht für so eine Karriere vorgesehen war. Er musste von draußen geholt werden, von den Herden.

Als Jüngster war er auch der Unerfahrenste. Der von Gott zum König Bestimmte und in dessen Auftrag Gesalbte war David, der Sohn Isais. Seine Haare sind rötlich und er hat schöne Augen, ein empfindsamer, sensibler junger Mensch. Er ist kein Krieger, sondern ein Musiker, der die Harfe spielt. Später wird er mit seinen Liedern den unter Depressionen leidenden alten König Saul besänftigen.

Damit das überhaupt möglich geworden ist, musste Samuel zuvor erkennen: „Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ (1 Sam 16,7b) Als entscheidend erweist sich, was Menschen von innen her ausmacht. So hat, sagt der Text, Samuel mit Hilfe Gottes die Perspektive gewechselt, er hat anders sehen gelernt, gewissermaßen mit den Augen Gottes das Herz zu sehen.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 26.3.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Das Symbol Herz

Antoine de Saint-Exupéry griff im Kleinen Prinzen das Motiv von Sehen und Herz auf, aber zugleich verändert: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Doch wie lernt man dieses „mit dem Herzen sehen“? Die Antwort im Kleinen Prinzen lautet: miteinander Zeit verbringen, füreinander verantwortlich sein, sich gegenseitig zähmen. So wird es möglich, im Miteinander vertraut werden, den Anderen, die Andere in seiner und ihrer Einmaligkeit zu sehen.

Bibel und Antoine de Saint-Exupéry haben verschiedene Zugänge: Mit Gott das Herz der Menschen sehen, so die Bibel. Mit dem Herzen die Menschen sehen, so der Autor des Kleinen Prinzen. Es sind zwei unterschiedliche Perspektiven, die doch miteinander verbunden sind. Denn das Herz symbolisiert ja nicht nur das Innerste des Menschen, sondern auch die Liebe. Und von ihr sagt Paulus: „Am größten ist die Liebe.“ (1 Kor 13,13c)