Bibelessay zu Johannes 20, 19 – 31

In der katholischen Kirche wird dieser Tag als Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit gefeiert. Es gibt ja den Brauch, dass die Sonntage der Osterzeit auch so benannt sind: heute z.B. der „zweite Ostersonntag“. Diese Barmherzigkeit, das Motto des Tages sozusagen, kommt in dem österlichen Evangelium vom sogenannten „ungläubigen Thomas“ recht eigentümlich zum Ausdruck.

Thomas macht etwas, das fast jeder tun würde: Er glaubt eine höchst unwahrscheinliche Erzählung nicht, derzufolge Jesus gestorben ist, und nun bei lebendigem Leib wieder gesehen wurde. Thomas ist nicht ungläubiger als die meisten heutigen Menschen es auch gewesen wären.

Severin Renoldner
ist katholischer Theologe

Der Zweifler warnt

Noch mehr: Thomas drückt seinen Wunsch aus: Er würde gern die Wunden berühren, mit denen Jesus grausam zu Tode gekommen ist, er deutet also an, dass er sich schon diesen starken Wunsch vorstellen kann, dass Jesus, dessen Vertrauter und Schüler er war, und an dessen Botschaft er glaubt, wieder da sein soll. Es ist eigentlich auch eine verborgene Zuneigung darin enthalten, wenn er sagt: Was ihr da erzählt, wäre doch zu schön, um wahr zu sein.

Wir haben also keinen Grund, den zweifelnden Thomas zu verurteilen! Die Zweifler und Unsicheren haben nicht immer unrecht! Sie warnen uns vor Leichtgläubigkeit, Aberglauben, Schicksalsdeuterei, vor billigen Geschäften und scheinheiligem Getue. In vielen Situationen des Lebens gibt es das, was wir „eine gesunde Portion Skepsis“ nennen. Oder sollte ich wirklich alles glauben, was so daher erzählt wird? Die Folgen wären ja furchtbar. Nein, nein, der gesunde Zweifel hat schon seinen Wert!

Der Zyniker glaubt nichts

Aber in der vorhin erzählten Geschichte des Evangeliums kommt etwas sehr Grundsätzliches zur Sprache, wo Zweifel wirklich nicht angebracht ist. Das Existenzielle, das Wesentliche, das ganz Gute, den Willen Gottes zum Guten – ihn sollte ich nicht spontan in Frage stellen. Die existenzielle Erfahrung eines Menschen, der sich für das Gute, für die Liebe, für das Wichtige im Leben entscheidet – auch sie könnte man leicht in Zweifel ziehen: Hast du dir das wirklich überlegt? Ist es nicht sinnlos, in einer so schlechten Welt an den Frieden, die Liebe, das Gute zu glauben? Kann es wirklich sein, dass über den Tod hinaus ein Sinn in deiner Existenz gegeben ist?

Erfüllte Zeit
Sonntag, 23.4.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Ich möchte – obwohl ich Thomas vermutlich in der Skepsis ähnlich bin – aber an diesem existenziellen Punkt auch die Kritik annehmen, die vom heutigen Evangelium aus an den Zweifler gerichtet wird: Zweifle nicht an den wesentlichen Dingen des Lebens! Vertraue darauf, dass das Gute oft ganz unerwartet und ganz unwahrscheinlich doch vortritt und einfach da ist.

Barmherzigkeit bedeutet, dass Jesus ja durchaus Verständnis für den zweifelnden Thomas hat. Er lässt sich anfassen und spüren – hier kommt das Bedürfnis des Thomas, Jesus „angreifen“ zu dürfen, zum Zug. Sei jetzt nicht mehr ungläubig, sondern gläubig – das heißt auch: Mit dem Sterben Jesu ist der Sinn seiner Botschaft nicht aufgehoben. Der Zweifler braucht jetzt nicht nachzudenken, ob alles falsch war. (Das würde er vielleicht nach seinem Naturell jetzt tun.) Er sollte aber – über eine gesunde Skepsis hinaus – nicht zum Zyniker werden, der gar nichts glaubt.