Bibelessay zu Matthäus 18, 21 – 35

Kann man aus der Vergebung der Sünden eine moralische Vorschrift machen? Kann man Vergebung verordnen?

Die zeitgenössische Psychotherapie weiß, dass Vergebung ein schwieriger und langwieriger Prozess ist. Sie ist mit intensiver Auseinandersetzung mit und Arbeit an sich selbst verbunden. Der gute Wille zur Vergebung ist zwar eine nötige Voraussetzung, aber er reicht nicht aus. Wer vergeben lernen will, muss sich der Verletzung stellen, die dazu geführt hat, dass Vergebung nötig wird. Das ist mehr als eine moralische Tat. Denn eine solche benötigt den freien Entschluss des Willens. Wer durch das Verhalten eines anderen verletzt wurde, kann aber in seiner Freiheit eingeschränkt sein. Vergebung beschreibt eine innere Verwandlung, einen inneren Prozess der Heilung einer Verletzung – und zwar unabhängig vom Verursacher. Dem anderen dann auch ausdrücklich zu vergeben, ist dessen Folge.

Regina Polak
ist katholische Theologin und Philosophin

Manchmal ist Vergebung nicht möglich

Zum Prozess der Vergebung gehören verschiedene Phasen. Da gilt es, Schmerz und Ohnmacht zu durchleben und auszuhalten, die von jenem Ressentiment und jenem Hass verdeckt werden, an denen unversöhnte Menschen oft leiden. Hinzu kommt vielfach die Scham, dass man es zugelassen hat, sich verletzen zu lassen. Und nicht zuletzt muss sich mancher irgendwann die Frage stellen, wie er denn selbst zu all dem Übel beigetragen hat. Das ist der härteste Teil des inneren Vergebungsprozesses. Er ist nötig, wenn man nicht zeitlebens von dem abhängig sein will, was einen verletzt hat.

Und manchmal ist Vergebung auch überhaupt nicht möglich: Wenn das Verhalten eines anderen Menschen das Leben eines anderen zerstört hat. Weil man noch ein Kind war, weil die Tat so böse war, die Schuld so groß ist, dass zu vergeben menschenunmöglich ist. Wie sollte man z.B. unschuldige Opfer von Missbrauch oder Gewalttaten moralisch zur Vergebung verpflichten?

7 mal 77 mal vergeben

So ist es also nicht verwunderlich, wenn Jesus von Nazareth im Evangelium nach Matthäus nach der Aufforderung, 7 mal 77 mal zu vergeben, ein Gleichnis erzählt, das auf die spirituelle Dimension des Vergebungsprozesses verweist. Vergebung ist eine Form, in der sich – so die Sprache der Bibel – das Himmelreich, das Reich Gottes auf Erden ereignet. Demnach ist sie niemals nur möglich aus eigener menschlicher Kraft. Wer die Erfahrung macht, vergeben zu können, macht zugleich damit die Erfahrung des Himmelreiches. Oder anders: Das Ereignis der Vergebung IST eine Dimension des Reiches Gottes. Nur in dieser Wirklichkeit, in dieser Atmosphäre ist Vergebung möglich. Im Prozess der Verwandlung durch Vergebung wirkt und ereignet sich Gott.

Erfüllte Zeit
Sonntag, 17.9.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich diese Wirklichkeit wahrnehmen und anzunehmen bereit bin. Gott kann das Wunder Vergebung nur mit der Zustimmung des Menschen wirken, niemals gegen seinen Willen. Darin besteht die moralische Dimension des Vergebens: zuzustimmen, dass ich in all dem Schmerz und der Ohnmacht des Vergebungsprozesses verwandelt werden kann. Das aber braucht Zeit.

Dabei kann ich die Erfahrung machen, dass meine Würde – und sei die Schuld des anderen noch so groß – niemals von diesem zerstört werden kann. Dann kann Vergebung zu einem Prozess der Befreiung werden, unabhängig davon, ob der andere je um Vergebung bittet oder nicht. Gerade bei unmenschlicher Schuld, die kein Mensch vergeben kann, ist diese Möglichkeit geradezu unverzichtbar: dass man nicht von der Reue des anderen abhängig ist. Sonst wäre ja jedes Gewaltopfer ein Leben lang zum Leiden an der Tat und zur Unfreiheit gezwungen. Mit Gott wird Verwandlung möglich, so die christliche Erfahrung.

Vergebung lernen

Erst wer solche Befreiung erfahren hat, muss anderen vergeben. Erst dann KANN er überhaupt anderen vergeben. Ob man diese Erfahrung mit theologischem Vokabular bezeichnet, ist dabei sekundär. Entscheidend ist, in dieser Wirklichkeit zu leben.

Wenn nun aber jemand, wie der Diener im Gleichnis, dem anderen seine Schulden nicht vergibt, obwohl er selbst Vergebung erfahren hat, gibt es nur zwei Möglichkeiten: 1. Seine Verweigerung ist dann tatsächlich eine böse Tat. Gottes Befreiung erfahren haben und sie anderen zu verweigern, ist Sünde. Drastisch beschreibt das Gleichnis, dass er Folterqualen leiden wird. Wer sich der Liebe und der Verwandlung verweigert, verhärtet und leidet. 2. Er hat selbst noch nie in seinem Leben Vergebung erfahren. Dann aber sind wir Mitmenschen gefragt, dann ist die Pastoral gefragt: Eröffnen sie Zeiten und Räume, dass Menschen lernen können, wie sich Vergebung in Gott ereignet?