Wider den Utopieverlust

Zum 90. Geburtstag von Christa Wolf: 1945: Ein Flüchtlingstreck zieht vom heute in Polen gelegenen Landsberg a. d. Warthe Richtung Westen. Auf einem der Wagen die damals knapp 16-jährige Christa Ihlenfeld. Über die Elbe zu kommen, ist das Ziel, doch die Pferde sind zu ausgepumpt, die Überquerung des Flusses gelingt nicht mehr.

So wurde von Krieg und Topographie ein erstes Hüben und Drüben markiert und eine Grenzlinie für dieses und kein anderes Leben gezogen. In ihrem letzten zu Lebzeiten erschienenen Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ legt Christa Wolf tastend die Fährten aus in jenes was, wenn: „Ob ich geschrieben hätte“, fragt sie sich, „weiß ich schon nicht, denn zum Schreiben haben mich ja immer die Konflikte getrieben, die ich in dieser Gesellschaft hatte.“

Ingrid Pfeiffer
ist Germanistin. Im Forum Katholischer Erwachsenenbildung in Österreich ist sie unter anderem für Bildungs- und Entwicklungsfragen zuständig.

Nachdenken über den blinden Fleck

Die Grenze ihres Landes DDR, dessen so aktive wie kritische Bürgerin sie die ganzen 40 Jahre seines Bestehens war, hat sie oft überschritten. Das Schreiben hielt Christa Wolf schließlich in ihrem gewählten Lebensraum, und es brachte sie auch darüber hinaus. Sie reiste viel, weil man ihre Stimme weit über die Landesgrenzen hin wahrnahm. Und man nahm sie wahr, weil ihre Worte auch anderswo an etwas rührten, an dem Politik einen Anteil hatte, doch nicht den einzigen.

Womit aber hat Christa Wolf jene Grenzen überschritten, die auf keiner Landkarte zu verzeichnen und dennoch von jedem Menschen zu erfahren sind? Mit Hilfe von Erinnerung, denn „Erinnerung hat mit Gewissen zu tun.“ Die diesen Satz ihres „Nachdenkens über den blinden Fleck“ zuerst hörten, waren TeilnehmerInnen eines Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 2007. Im Aufsuchen der Utopie, denn „was wir wünschen können, muß doch im Bereich unserer Kräfte liegen“. Das darf, ja muss Heinrich von Kleist denken, den Christa Wolf 1979 in „Kein Ort. Nirgends“ mit Karoline von Günderrode in einen fiktiven Dialog treten lässt.

>Nach dem Krieg< – dies ist die Zeitrechnung

Die Autorin hatte für ihr Schreiben eine – sagen wir – Methode gefunden, die es ihr möglich machte, auf ganz spezielle Weise in jedem ihrer Texte anwesend und kenntlich zu sein. Sie nannte sie „subjektive Authentizität“ und beschrieb sie folgendermaßen: „erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung“.

Lebenskunst
Sonntag, 17.3.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Dahinter der scheinbar simple, auf Leben und Werk gleichermaßen bezogene Grundanspruch: gekannt werden. Er hat nichts mit Eitelkeit und Geltungssucht zu tun, und trotzdem viel mit ihr selbst, weil sie ihr eigenes Streben um Wahrhaftigkeit ihrem Werk einschrieb. Sie sah es als Teil des Geflechts aus Welt und Person, aus Wirklichkeit und dem Wunsch, sie zum Besseren zu verändern. Setzte doch ihr Dasein als Schriftstellerin zu genau der Zeit ein, als die DDR ihre Abgrenzung zur umgebenden Welt durch eine Mauer manifestierte. Und auch dies muss in dem größeren – zu erinnernden – Zusammenhang gesehen werden, den Ingeborg Bachmann mit „>Nach dem Krieg< – dies ist die Zeitrechnung.“ beschrieb.

„Die Wände rücken enger zusammen“

Die neue, die andere Art zu leben, fragte nach den Menschen, und diese mussten sich selbst kennen. Denn nur „Menschen, die sich nicht über sich selbst betrügen, werden aus der Gärung einer jeden Zeit Neues herausreißen“. Der Satz ist der bis dahin fast vergessenen Dichterin der Romantik, Karoline von Günderrode in den Mund gelegt. Mit ihr beschäftigte sich Christa Wolf, als sie bereits Grund genug zu Misstrauen hatte, Subjektwerdung in diesem Sinn wäre das Gewünschte, das Gewollte. Dieser sogenannte „Projektionsraum Romantik“ eröffnete sich ihr in den späten 1970er Jahren, die der Ausbürgerung Wolf Biermanns folgten.

Bereits 1965 aber hatte sie notiert: „Die Wände um uns rücken enger zusammen. Doch in der Tiefe, zeigt sich, ist viel Raum.“ Räume – die Verdichtung von Orten also – blieben fortan wichtige Metaphern. Die Romantik war kein Fluchtort, kein Ort, um abwesend zu sein. Sie ermöglichte ihr schreibend jenes Potential zu erschließen, das die Apparate der Realpolitik versperrten. In Verbindung von Erinnerung und utopischem Entwurf trafen dort Traditionslinien auf Gegenwart und schienen gradewegs auf das zuzulaufen, was nach den 1968er Jahren so dringend gebraucht wurde, hüben und drüben: Persönlichkeit, Integrität, Intellektualität und Weiblichkeit, kurz ein neues Selbst-Bewusstsein, ein Zutrauen zu sich selbst und ein gesundes Misstrauen gegenüber Systemen und Ideologien.

Dem Schweren mit Einsicht und Hoffnung begegnen

Für jenes System, in dem Christa Wolf lebte, war das bedrohlich und alles andere als gradewegs. Für die Lesenden im sogenannten Westen wurden diese Projektionsräume zu Aufenthaltsorten mit vielen Türen. Eine davon führte noch weiter in die Tiefe, in den Mythos, zur Seherin Kassandra. In einem Monolog findet diese Frau, die auf ihren Tod, ja ihre Hinrichtung zugeht, dem System also unterliegt, sprechend sich selbst als autonome Person. Die Missachtete – und als solche Tradierte – richtet sich auf in einer Sprache von lyrischer Intensität und wird, ohne den mythologischen Raum zu verlassen, gegenwärtig. „Noch alles, was mir widerfahren ist“, sagt Kassandra, „hat in mir seine Entsprechung gefunden. Es ist das Geheimnis, das mich umklammert und zusammenhält.“

Ein letzter Ort soll noch aufgesucht werden. Berlin, Alexanderplatz, 4. November 1989, Christa Wolf als eine der wichtigsten RednerInnen. Sie hatte – Kassandra nicht unähnlich – nie davor zurückgescheut, öffentlich Unbequemes zu sagen, konkret zu werden, kenntlich und sich selbst damit in Gefahr zu bringen. „Sie ging“, wie Volker Braun sie in seiner Trauerrede charakterisierte, „bis an die Grenze, an der man sich selbst als Fremder entgegenkommt.“ Hier aber war sie als Mutmachende auf das Podium gerufen, die sich dieses Vertrauen nicht zuletzt dadurch erworben hatte, dem Schweren nie mit Düsternis, sondern mit Einsicht und Hoffnung begegnet zu sein. Bis zuletzt.

„Die Erde ist in Gefahr /.../, und unsereins macht sich Sorgen, dass er an seiner Seele Schaden nimmt.
Das seien die einzigen Sorgen, um die es sich lohne, weil alles andere Unheil sich aus diesen ergebe.“