Bibelessay zu Lukas 9, 28 – 36

Vor fast zehn Jahren hatte ich eine unvergessliche Begegnung in Jerusalem. Wenn ich an sie denke, ist es mir, als wäre sie gestern geschehen, und ich bin wieder in der Stadt und gehe in das sogenannte Ticho-Haus.

Im Erdgeschoss findet sich ein Caféhaus, im ersten Stock ein Teil der reichhaltigen Sammlung von Chanukka-Leuchtern, die der Augenarzt Abraham Ticho im Lauf seines Lebens zusammengetragen hat.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Tor der Freundschaft

Im Caféhaus bin ich für 10 Uhr verabredet mit einem Mann, den ich noch nie zuvor gesehen oder getroffen habe. Ich gehe durch den massiven Eingangsbogen und sehe einen älteren Mann an einem kleinen Tisch sitzen, ihm gegenüber ein leerer Sessel. Ich bin mir sofort sicher: Das muss Aharon Appelfeld sein. Vor sich hat er lose Zettel, in denen er liest. Ich gehe auf ihn zu und grüße ihn. Und er blickt mich an, steht auf, reicht mir die Hand und bietet mir den Platz ihm gegenüber an. Und weil ich wie gebannt bin von dieser Offenheit und nicht weiß, was ich tun oder sagen soll, beginnt Aharon Appelfeld zu erzählen, von seinem Schreiben, seinen Gedanken, vom Judenhass und von seiner Hoffnung, dass die Welt durch gute Menschen doch besser werde. Immer wieder schweigt er einige Zeit, und dann sieht er mich mit seinen leuchtenden großen Augen an, die unglaubliche Güte ausstrahlen. Es ist, als strahlt der ganze Mensch – und das, obwohl er als Kind die Ermordung seiner Mutter durch die Nazis hatte ansehen müssen und jahrelang jeden Tag dem Tod ausgesetzt war als Kinderflüchtling.

Seine strahlenden Augen habe ich in all den Jahren immer wieder gesehen. Sie waren gewissermaßen das große, offene Tor einer Freundschaft. Diese Freundschaft reichte bis zu seinem Tod vor vierzehn Monaten und lebt seither wie sein Vermächtnis in mir weiter.

Versprechen der Ewigkeit

Ich wollte damals nicht, dass diese Stunde endet. Und so habe ich sie verlängert, indem ich unmittelbar danach von dieser unserer ersten Begegnung ins Tagebuch geschrieben habe. Das war kein Bericht, sondern eine Art Gedicht auf Aharon Appelfeld, auf seine leuchtenden Augen, auf seine Stimme, auf sein Schweigen.

Lebenskunst
Sonntag, 17.3.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Als ich den Text des heutigen Evangeliums las, hat er mich an diese Begegnung erinnert. Lukas war zwar nicht selbst dabei, hat aber von dieser unglaublichen Begegnung gehört, die Petrus und zwei seiner Freunde am Tabor widerfahren ist. Und so schreibt Lukas keinen Bericht darüber, sondern eine Art von Gedicht, ein Gedicht auf umwerfende Erfahrungen, die Freunde mit einem Menschen machen, der sich öffnet. Und das tut Jesus, indem er betet. Es wundert mich nicht, dass die Begleiter Jesu diese Stunde festhalten wollten. Wenn man einen wirklich unvergesslichen Augenblick erlebt – und das weiß man in der Stunde, in der das geschieht –, dann will man ihn festhalten. Er ist wie ein Versprechen der Dauer, wie ein Versprechen der Ewigkeit.

Umwerfende Augenblicke

Es wundert mich auch nicht, dass die Begleiter Jesu nicht mehr wissen, was sie sagen sollen oder sagen können. Man kann es nicht beschreiben, man kann davon nur singen, nachträumen und es bewahren – am besten in der Sprache der Dichtung.

Die Bibel erzählt nichts Esoterisches vom Wesen Gottes, auch Lukas nicht. Sie erzählt von Menschen, von ihren Erfahrungen, die sie miteinander gemacht haben, von ihren Alltagsverrichtungen und manchmal eben auch von umwerfenden Augenblicken. In solchen Augenblicken leuchtet eine Güte auf, die Mut macht und die zum Weg zu Gott werden kann.

Gott ist für mich kein Jenseits, er ist auch kein Diesseits. Gott blitzt für mich auf in den strahlenden Augen von Freunden und Freundinnen, ob sie nun reden, schweigen oder auch beten.