Bibelessay zu Genesis 18,1-10a

In diesem Textabschnitt aus dem 1. Buch der Bibel spielt das Thema Gastfreundschaft eine zentrale Rolle:

Abraham, der Stammvater aller biblisch Glaubenden, wartet drei Reisenden gastfreundlich auf und begegnet in diesen Gott selbst. (Eine Szene, welche in der vielleicht berühmtesten aller Ikonen des christlichen Ostens ihren bildlichen Ausdruck gefunden hat: in der Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rublëv.) – In der vorderorientalischen Herkunftskultur der Bibel, aber auch in vielen anderen Kulturkreisen hat Gastfreundschaft einen hohen sittlichen Stellenwert; ihre Verletzung kann schwere zwischenmenschliche und sogar soziale Konflikte nach sich ziehen. Ja, der Verpflichtungscharakter von Gastfreundschaft und Gastrecht ist zuweilen so hoch, dass ihm der Rang einer „heiligen“ Pflicht zukommt.

Markus Schlagnitweit
katholischer Theologe, Priester und Akademiker- und Künstlerseelsorger

Gastrecht als „heilige“ Pflicht

Kulturwissenschaft und Theologie bringen diesen strengen Verpflichtungscharakter des Gastrechts für gewöhnlich in Zusammenhang mit der extremen Gefährdung und Schutzbedürftigkeit des reisenden Fremdlings in archaischen Kulturen. Solche Erklärungen greifen aber zu kurz; die strenge Verpflichtung zu großzügiger Gastfreundschaft und die heilige Würde und Unantastbarkeit des Gastes haben vermutlich noch eine tiefere Wurzel: Es spiegelt sich darin ein urreligiöses Gespür dafür, dass der an der Tür erscheinende Fremde ein lebendiges Gleichnis für Gott selbst darstellt, dass er einen zentralen Wesenszug Gottes an sich trägt.

Das Wesen des Fremden besteht ja in seinem Anderssein. Der Fremde gehört nicht zum gewohnten Lebenskontext des Alltags; er hat nicht teil an den eingespielten Sitten, Bräuchen und Beziehungsgeflechten, in die das alltägliche Leben sicher – oder zumindest vermeintlich sicher – eingebettet ist. Der Fremde sprengt und bricht den vertrauten Gesichtskreis auf; er stellt durch sein bloßes Anderssein das unhinterfragt Gültige des Alltagslebens in Frage und eröffnet so neue Horizonte, neue Perspektiven und Lebensmöglichkeiten. Die Begegnung mit dem Fremden kann so zum Auslöser bzw. Impuls für lebendige Weiterentwicklung werden.

Lebenskunst
Sonntag, 21.7.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Gleichnis für die Begegnung mit Gott

Hierin gründet aber auch die Ambivalenz der Gefühle, mit der allerorten Fremden begegnet wird. (Und ich habe in diesem Sinn auf meinen zahlreichen Wanderungen in zuweilen abgelegene Gegenden immer wieder beides erlebt: skeptische Zurückhaltung bis hin zu Misstrauen und Abwehr ebenso wie freudige Aufnahme bis hin zum Gastfest). Weil der Fremde durch sein bloßes Anderssein alles Vertraute und Gewohnte in Frage stellt, kann die Begegnung mit dem Fremden immer auch eine Quelle für Störungen und Herausforderungen sein; die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist immer auch unbequem und provoziert deshalb Abwehrreaktionen. Zugleich aber durchbricht sie die Langeweile, das „Braten im eigenen Saft“, die Gefahr inzüchtiger Degeneration der eigenen Gesellschaft bzw. Kultur – und sie ist deshalb nicht nur interessant und spannend, sondern letztlich auch lebensnotwendig.

Genau darin aber wird die Begegnung mit dem Fremden zum Gleichnis für die Begegnung mit Gott, zu dessen Wesen ja gerade das Anderssein gehört: Ein Gott, der das eigene Leben nur bestätigen und in sich ruhen lassen würde, ist bestenfalls eine religiöse Beruhigungspille und in der Diktion der klassischen Religionskritiker bloß eine Projektionsfläche menschlicher Wünsche. Oder wie Antoine de Saint-Exupéry es in seiner „Stadt in der Wüste“ einmal drastisch formuliert hat: „Ein Gott, der dem Gebet der Menschen gehorcht, ist kein Gott mehr.“ – Nein, Gott ist immer anders. Er muss größer und weiter sein als die stets beschränkten Lebensperspektiven, Ziele und Glücksvorstellungen des Menschen; nur so kann Gott zur Quelle neuen, volleren Lebens werden.