Scheitern oder die Kunst, schwimmen zu lernen

Das ist der Titel einer Vortragsreihe, die ich vor einigen Jahren gehalten habe. Warum mir das gerade jetzt in den Sinn kommt? Dafür gibt es einige Anstöße.

Der erste ist ein Allerheiligenbesuch auf dem Friedhof meiner Heimatstadt. Wie gewöhnlich gehe ich im Mittelgang Richtung Familiengrab. Auf halbem Weg steht ein großes altes Kruzifix, es ist mir seit meiner Kindheit wohlvertraut, ein Platz, an dem ich immer Halt mache. Dieses Mal stehen zwei Männer meines Alters ebenfalls davor, und ich höre den einen sagen: „Da hängt er ja, der große Gescheiterte! Und auf den fragenden Blick des anderen setzt er fort: „Gar nichts hat es ihm genützt, dass er durch die Lande gezogen ist, von einem liebenden Gott erzählt und Leute geheilt hat. Nicht einmal normal sterben haben sie ihn lassen, sondern ganz elendiglich am Kreuz ist er umgekommen, hin und gescheitert halt!“

Margit Hauft
ist Erwachsenenbildnerin und langjährige Vorsitzende der katholischen Frauenbewegung Österreichs

Der verlorene Sieger

Nachdenklich gehe ich weiter, der Gekreuzigte als der Gescheiterte, so hatte ich das noch nie gesehen.

Am nächsten Morgen bei der Zeitungslektüre lese ich wie immer Zitate aus Kindermund und mir springt der Ausspruch eines Achtjährigen ins Auge, der seinen zweiten Platz im Schirennen mit: „Ich bin der verlorene Sieger“ kommentiert hat. Nicht auf dem gewonnenen zweiten Platz, sondern auf dem verlorenen Sieg liegt also sein Augenmerk.

Da ist bei mir plötzlich wieder ein wohl vermeintlich motivierender Satz eines Turntrainers im Ohr, der vor einem Wettkampf seine damals siebenjährigen Kunstturner anspornte: „Also ich will euch siegen sehen und vergesst nicht: das Scheitern beginnt beim zweiten Platz!“

Loser und Opfer

Da war es wieder dieses Scheitern, das die einen als Kehrseite des Erfolgs bezeichnen, die anderen aber als niederdrückend, als weiteren Beweis dafür sehen, einfach nicht gut genug zu sein, zu den „Losern“ oder „Opfern“ zu gehören, zwei gängige Schimpfwörter bei Jugendlichen.

Zwischenruf
Sonntag, 3.11.2019, 6.55 Uhr, Ö1

Loser sind die, die nicht zu jeder Zeit „abliefern“ können, wieder so ein Modewort. Aber wer kann das schon? Oder anders gefragt: Wer sagt mir, ob, wann, wo ich gescheitert bin? Wer legt die Messlatte, bin ich es oder immer nur die anderen?

Es hängt vieles von meiner Geschichte, meiner Erziehung ab, wie ich mit dem Scheitern umgehe, damit, dass nicht alles immer so klappt, wie es wünschenswert ist. Sehe ich es als Normalfall, als Herausforderung, als Lernfeld oder sogar als Chance?

Kultur der zweiten Chance

Für Kinder ist es wegweisend zu erleben, dass sie ein Recht auf scheitern haben. Ihnen alles abzunehmen, oder ihnen das Hinfallen erlauben, Misserfolge benennen und mit ihnen umgehen lernen, oder die Schuld auf andere schieben, das sind elterliche Entscheidungen, die für das Leben prägen.

Kinder hören, wie wir wissen, nicht nur Erfolgsgeschichten gern, sie haben auch ein besonderes Faible für die Pechvögel, die Tollpatschigen, die Clowns und Donald Ducks, diejenigen, die nach allem Stolpern und Umfallen immer wieder aufstehen und es neu versuchen, es versuchen dürfen.

Nicht nur Kinder brauchen diese Kultur der zweiten Chance, das Fehler Machen, sich irren Dürfen ohne für immer abgestempelt zu sein. In unserer Gesellschaft haben freilich Fehler häufig keinen Platz. Da sie natürlich trotzdem vorkommen, werden sie oft tunlichst verwischt, nicht zugegeben oder aber anderen angelastet.

"... aber sie sind leer"

Wie anders wird uns doch vom Umgang Jesu mit Gescheiterten berichtet. Vom verlorenen Sohn, der trotz allem nicht nur wieder daheim geduldet, sondern sogar mit Freuden wieder aufgenommen wird, von der Ehebrecherin, und dem vermutlich korrupten Zöllner, bei dem er zu Gast ist. Geh und sündige nicht mehr! Geh, dein Glaube hat dir geholfen!

Solche Worte ermöglichen es, zum eigenen Scheitern zu stehen und geben Kraft für den Neubeginn. Sie ermutigen zum Eingestehen und Zugestehen, zum Aufstehen und Weitergehen. Wer Ja dazu sagen lernt, dass Scheitern, Verwundungen und Verletzungen zum Leben gehören, für den kann eine neue Lebensqualität entstehen: verwundbar, verletzlich und berührbar bleiben.

Eine kurze Weisheitsgeschichte zum Schluss. Ein Mensch erscheint vor Gott und berichtet: Herr, ich habe immer nach deinen Gesetzen gelebt, keine Fehler gemacht und mich nie mit Menschen oder Dingen abgegeben, die mir hätten gefährlich werden können. Schau meine Hände an, sie sind rein. Ohne Zweifel, antwortet Gott, aber sie sind auch leer.