Erinnerung und Utopie

„Vergänglichkeit, du Donnerwort.“ Mit diesem Aufschrei begegnet Christa Wolf der vergehenden und gleich auch der zukünftigen Zeit.

Gedanken für den Tag 28.11.2019 zum Nachhören (bis 27.11.2020):

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Schon früh wünscht sie sich, „die Fähigkeit des Bewahrens“ zu entwickeln und wird sich die Mühe darum ein ganzes Schriftstellerleben hindurch erhalten. Aber die Erinnerung entzieht sich der Verfügbarkeit. Christa Wolf, die ohne sie nicht auskam und nicht auskommen wollte, warnte vor der Täuschung, und nennt die Erinnerung an anderer Stelle ein „Betrugssystem“, wenn es um ihren Wahrheitsgehalt geht. Deshalb lässt sie Kassandra sich kurz vor ihrem Tod eine Sklavin mit scharfem Gedächtnis und kraftvoller Stimme wünschen, um das von ihr Gesagte wahrheitsgetreu an die Töchter weiterzugeben.

Ingrid Pfeiffer
ist Autorin, Germanistin und Erwachsenenbildnerin

Dunkle und helle Seite der Erinnerung

Doch Hilfskräfte dieser Art gab es weder für Kassandra noch für Christa Wolf selbst. Wie sehr dem eigenen Erinnern zu misstrauen sei, hat sie besonders schmerzlich erfahren, als sie nach der Öffnung der Stasi-Archive neben der 42 Bände umfassenden Opferakte einen schmalen Faszikel überreicht bekam, eine sogenannte Täterakte. Die Tatsache ihres eben Nicht-Kooperierens mit der Stasi geht daraus zwar eindeutig hervor, doch dass sie von 1959 bis 1962 in dieser Verbindung stand – sie hatte es vergessen. Im Roman „Stadt der Engel“ ringt sie mit diesem Vergessen wie mit einem Vergehen.

Aber wie das Vergessen die dunkle Seite der Erinnerung ist, kann Utopie zu deren heller Seite werden. Christa Wolf schrieb in diesem großen Spannungsbogen zwischen Erinnerung und Utopie. Auch wenn beides an der Realität gemessen wird, hat man es mit der Utopie leichter. Für das Entworfene gibt es den Prüfstand der Tatsachen noch nicht, und das kräftige Wünschen ist auf alles anwendbar, von der Integrität politischer Systeme bis zu persönlichem, wahrhaftigem Leben. Die Zeit dafür ist die Gegenwart, aus deren Gärung Neues herauszureißen sei.

Musik:

„Altes Geld – Unter Löwen“ von Kyrre Kvam
Label: ORF-Enterprise Musikverlag