Bibelessay zu Matthäus 11,2-11

Wer kennt es nicht, das markante Grundmotiv von Beethoven im 1. Satz seiner 5. Symphonie! Diese simplen 4 Töne sind es, die bereits im 1. Takt sehr markant erklingen. Dieses Grundmotiv ist es, das sich wiederholt und in verschiedenen Variationen, Rhythmen und Modulationen die ganze Symphonie durchzieht.

Um ein Grundmotiv ähnlicher Art geht es in diesem Evangelium am 3. Adventsonntag: Auf die Frage des Johannes des Täufers, wer Jesus sei und ob er denn der schon so sehnlich erwartete Messias sei, antwortete dieser mit Bildern: Blinde sehen wieder und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet.

Magdalena Holztrattner
ist katholische Theologin und Sozialethikerin

Erfülltes Leben für alle

Damit bezieht sich Jesus auf ein wiederkehrendes Grundmotiv jüdisch-christlicher Erzählung. Bereits die Propheten des Ersten Testaments spielten mit diesem Grundmotiv. Ganz wesentlich wird es dem Propheten Jesaja zugeschrieben. Jesus von Nazareth zitiert diesen großen Propheten Jesaja mit genau diesen Worten immer dann, wenn er sich und seine Botschaft ausweisen will: bei seinem ersten Auftritt in der Synagoge im Lukas-Evangelium genauso wie eben hier im Matthäus-Evangelium: Blinde sehen wieder und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet. Das zeichnet ihn als Christus, als den erwarteten Messias aus.

Das Grundmotiv in der Symphonie Jesu ist, dass das Leben für alle Menschen ein volles, ein erfülltes, ein freies und ein lebendiges sein soll. Ein Leben, das befreit sein soll von psychischen wie physischen Verkrümmungen, von emotionalen wie sozialen Blindheiten, von wirtschaftlichen wie konventionellen Lähmungen, von krankmachenden und tödlichen Strukturen, von politischer Hetze und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dass die Armen, die Gedrückten, die Verachteten und Behinderten wieder froh, frei, gesund und integriert sind, wird als wesentlicher Bestandteil der Botschaft Jesu wiederholt und durch sein exemplarisches Tun und Heilen sichtbar gemacht.

Johannes ist der Auftakt

Mit dieser Selbstdefinition Jesu, wer er sei, legt das heutige Evangelium den Finger in eine Wunde unserer Gesellschaft, in der so oft Gleichgültigkeit gegenüber der Abwertung anderer herrscht, in der scheinbar viele von Blindheit gegenüber den himmelschreienden Ungerechtigkeiten auf der Welt geschlagen sind, in der sich so viele Menschen ohnmächtig und depressiv fühlen, weil ihre Lebenskraft lahmt und ihre Kraftquellen verschüttet sind, unserer Welt, in der so viel Sehnsucht nach Heilung und Heilsein, nach Anerkennung und Geliebtsein klingt.

Lebenskunst
Sonntag, 15.12.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Jesus aber ist, so die biblische Sicht, geboren worden - damals in Betlehem - um in den Menschen die Melodie von der frei- und lebendigmachenden, von der Frohen Botschaft Gottes durch Wort und Tat zum Klingen zu bringen.

Johannes der Täufer wird gefragt, ob er selbst der Messias sei. Johannes verweist aber auf Jesus. Johannes ist nicht der Messias. Er ist quasi nur der Auftakt, vielleicht das Präludium für die Symphonie des Jesus von Nazareth.

Eigene Lebens-Symphonie

Wenn sich nun Menschen an diesem Jesus orientieren wollen, dann wollen sie in ihrem Leben, in ihrem Tun und Reden etwas von dem erklingen lassen, was für Jesus von Nazareth so charakteristisch war. Im Leben von Christinnen und Christen geht es aber nicht darum, das Leben Jesu genau 1:1 zu kopieren. Es geht vielmehr darum zu schauen, wie das Grundmotiv Jesu in das eigene Leben, in den eigenen geschichtlichen, gesellschaftlichen und biografischen Kontext übersetzt werden kann.

Das beethovensche Grundmotiv ist in der 5. Symphonie in c-moll gespielt, wird aber auch in Spiegelungen und Variationen in Dur gespielt, ohne den Bezug auf das Grundmotiv zu verlieren. Ebenso kann das Grundmotiv Jesu im Tun und Handeln von Menschen heute ganz anders klingen als vor 2000 Jahren, ohne den Bezug zu dem, was Jesus von Nazareth wesentlich war, zu verlieren. In vielen Farben, Formen, Spiegelungen und Modulationen soll die befreiende und frohmachende Botschaft Jesu durch das Leben von Christinnen und Christen erklingen. Der Vielfalt sind dabei keine Grenzen gesetzt. Schließlich sollen wir ja unsere je eigene, von Gott geliebte Originalität in der Übersetzung des Grundmotivs Jesu leben. Und daraus unsere eigene Lebens-Symphonie komponieren.