Bibelessay zu Johannes 9,1-41

„Die Heilung eines Blinden“ – So ist in den gängigsten Bibelausgaben diese ungewöhnlich lange Evangelienstelle überschrieben. Das ist eigentlich irreführend. Denn die titelgebende Blindenheilung nimmt nur ungefähr ein Sechstel des gesamten Textes ein.

Ein genauerer Blick macht indes klar: Worum es in einer für biblische Verhältnisse ungewohnten Länge viel mehr geht, das ist die Skepsis, das Nicht-Wahrhaben-Wollen der übrigen Menschen.

Markus Schlagnitweit
ist katholischer Theologe, Akademiker- und Künstlerseelsorger der Diözese Linz

Probleme mit Wundern

Das gibt zunächst Anlass zu einer geradezu tröstlichen Feststellung: Schon die Menschen der Antike hatten ihre Probleme mit Wundern. Die Nachbarn des Blindgeborenen z.B. können die wundersame Heilung einfach nicht glauben und bestreiten prompt die Identität des Geheilten. Religiöse Autoritäten von damals bezweifeln das Wunder ebenfalls, weil es sich verbotenerweise an einem Sabbat ereignete; für sie kann nicht sein, was nicht sein darf. – Keine Spur also von einer naiven Wundergläubigkeit der damaligen Menschen mit ihrem vorwissenschaftlichen Weltbild – während der moderne Mensch dazu eben nicht fähig wäre wegen seines aufgeklärt-wissenschaftlichen Bewusstseins!

Nein, die Trennlinie zwischen Verständnis und Ablehnung von Wundern verläuft keineswegs zwischen wundergläubigem Altertum und aufgeklärter Moderne. Sie ist auch keine Frage von Bildung und Verstandesschärfe. Die Trennlinie verläuft vielmehr entlang der Frage: Lasse ich in meiner Weltwahrnehmung Raum für das Wirken eines Gottes – oder halte ich die Grenzen meines Verstehens und meines Weltbildes überhaupt für die Grenzen der Wirklichkeit?

Vorgefasste Meinungen

Genau deshalb sollte man diese ganze Bibelstelle weniger als Erzählung eines Heilungswunders lesen, sondern vielmehr als Parabel auf die unheilvolle Kraft von Vorurteilen und vorgefassten Meinungen: Für die Nachbarn wiegt als Identitätsmerkmal des Geheilten dessen frühere Blindheit offenbar schwerer als alles andere. Die konsultierten Religionsexperten vermögen in der Heilung auch nichts Gutes zu erkennen, weil sie ja mit einem Verstoß gegen eine religiöse Vorschrift korreliert. Alle leugnen also die offensichtliche Tatsache der Heilung und versuchen damit die eigene Überzeugung und Weltsicht zu retten. Wer dagegen dieser Weltsicht nicht entspricht oder sie gar gefährdet, landet im sozialen Out: Der wundersam Geheilte erfährt sozialen Ausschluss. – Typisch für die Macht des Vorurteils ist auch: Seine Träger nehmen die eigene Lächerlichkeit bei der Verteidigung ihres Vorurteils nicht einmal wahr. Sie sind die eigentlich Blinden der ganzen Erzählung.

Lebenskunst
Sonntag, 22.3.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Es ist bemerkenswert, wie feinlinig dagegen der geheilte Blindgeborene gezeichnet wird – nämlich völlig unvoreingenommen dem gegenüber, was er wahrnimmt, und äußerst vorsichtig im Umgang mit der eigenen Erkenntnis: Auf die Frage nach dem Wie seiner Heilung, sagt er nicht etwa: „Jesus hat mich geheilt.“, sondern: „Der Mann, der Jesus heißt, hat dies und jenes mit mir gemacht.“, und später: „Ob dieser Jesus ein Sünder ist, weiß ich nicht – nur…, dass ich blind war und jetzt sehen kann.“

Neue Sichtweisen

Der Geheilte urteilt, wertet und interpretiert nicht; er schiebt seinen eigenen Standpunkt nicht in den Vordergrund; er sagt einfach, was ist. – Die abschließende Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten zeichnet diesen schließlich in einer Eigenschaft, die man geradezu „intellektuelle Redlichkeit“ nennen muss: Auf Jesu Frage nach seinem Glauben an den Menschensohn, will er zunächst Aufklärung darüber, wer das überhaupt sei. Erst als sich Jesus, der der ihn geheilt hat, selbst als dieser „Menschensohn“ outet, spricht der Geheilte sein Glaubensbekenntnis.

Diese biblische Erzählung lässt nach eigenen Vorurteilen und vorgefassten Meinungen fragen. Und sie stellt beispielhaft einen Menschen vor, der Heilung erfährt, weil er dafür die richtige Haltung mitbringt: Unvoreingenommenheit, Offenheit, intellektuelle Redlichkeit. Er bildet sich sein Urteil nicht aufgrund von Mehrheitsmeinungen, sondern auf der Basis eigener Erfahrung und authentischen Erlebens. So etwas kann ganz neue Sichtweisen eröffnen – gerade in der Begegnung mit Fremdem und bislang Unbekanntem. Und die Erfahrung zeigt: Genau das kann wunderbar heilsam sein.